Obwohl das Bett riesig war, nahm es dennoch nicht den gesamten Raum ein. Den noch verbliebenen Platz teilte es sich mit einem schmalen Metalltisch, auf dem ein Computerbildschirm samt Tastatur und Maus und ein kleines Mischpult standen. Direkt vor dem Bett war eine Kamera auf einem Stativ aufgebaut und starrte mit ihrem Objektiv direkt aufs Laken. Von den vier Ecken an der Decke des Raumes blickten die Linsen vier weiterer Überwachungskameras auf das Geschehen darunter. Links und rechts des Bettes waren Mikrofone auf Ständer geschraubt und ebenfalls auf das Bett gerichtet. Etwa fünf Zentimeter dicke Styroporplatten, die an die Wände geklebt waren, sollten Hallgeräusche verhindern.
Lipsky schwang sich auf seinem Drehstuhl vor den imposant großen Bildschirm, der bereits im Stand-by-Modus auf ihn wartete. Er drückte auf einen Knopf. Das Standbild eines Videos im Ruhemodus flammte auf. Der Mörder des Mädchens drückte auf record. Kamerabilder zeigten in eigenen Bildsplits das Bett mit dem toten Mädchen. Er zoomte die Kamera jetzt unverschämt dicht an das Mädchen heran und suchte sich das Areal unterhalb des Bauchnabels. Er erhob sich, entkleidete sich, zog sich eine Maske über die Augen und glitt nun selbst als Akteur in das Bild hinein, zerschnitt mit einer kleinen Schere ihren Slip und machte sich an dem Mädchen mit der Zunge, Fingern und seinem Geschlechtsteil zu schaffen. Den fünf Kameras entging dabei nichts, was der Mann nicht auch freiwillig zeigen wollte. Je mehr Zeit verstrich, umso brutaler sein Vorgehen. Das erregte Stöhnen des Mannes war deutlich zu hören, das sich in der Folge seiner augenscheinlichen Vergewaltigung in eine Art ekstatisches Geheul steigerte. Etwa bei Minute einundzwanzig entlud sich Lipsky auf dem nackten Körper, glitt einen Moment später aus dem Bild der Kameras, stoppte die Aufnahmen, ein Standbild erschien. Nackt wie er war, die Maske weiter auf dem Gesicht, sah sich Jonas Lipsky das Video an, masturbierte und beendete sein Tun nur kurze Zeit später röchelnd und mit verzerrtem Gesicht. »Mehr, ich will mehr …«
Er wusch sich die Hände und kehrte an seinen Computer zurück. Er speicherte die Datei, rief eine verschlüsselte Seite über einen Browser namens Tor im Darknet auf und schrieb eine kryptisch klingende Nachricht an einen User, der sich Hadraniel5211 nannte. Er versetzte seinen Bildschirm in den Ruhemodus. Er löschte alle Lichter und warf sich neben die Leiche auf das Bett. Er zog eine Decke über sich und das Mädchen und schlief ein.
Eineinhalb Stunden später erklang ein scharfes, hoch tönendes Signal. Verschlafen richtete sich Lipsky auf. Der Computer-Bildschirm war in den Betriebsmodus zurückgekehrt und beleuchtete mit einem kalten Licht düster den Raum. Lipsky verließ das Bett, setzte sich vor den Bildschirm, rief die Datei mit dem Video auf, lud es in den Orbit des Internets hoch und versandte es an die Adresse,
die ihm Hadraniel5211 per Nachricht hatte zukommen lassen. Er wartete. Die Datei war hochgeladen. Er wartete erneut. Er erhielt eine Nachricht mit einer Überweisungskopie. 2.500 Euro. Zahlungsgrund: »Technische Dienstleistungen«.
Unbekümmert und wie eine Ratte, die ans Tageslicht will, verließ er sein Kellerloch und kehrte eine Etage darüber in seine Küche zurück. Er setzte seine Espressomaschine unter Strom. Er war zufrieden, das Geschäft mit seinen gierigen Kunden lief wie geschmiert.
Nur wenig später duschte er, kleidete sich an und kehrte in den Souterrain zurück.
Lipsky entleerte den Rucksack des Mädchens auf dem Boden. Schulhefte, eine Federtasche, ein Handy und der Fantasy-Roman Avalon von Marion Zimmer Bradley fielen heraus. Er stapelte seinen Fund übereinander, legte ihren Ausweis aus dem Karton obenauf, sah auf ihren Namen und griff aus dem Regal, wo noch weitere Teppiche lagerten, nach einer Plastikdose mit Paketschnur. Er verschnürte alles und schob die Habseligkeiten wieder zurück in den Rucksack. Dann wandte er sich davon ab und dem Mädchen zu.
»Hallo, kleine Elisabeth, ich ziehe dir jetzt die Kapuze vom Gesicht. Das geht schnell und tut nicht weh.«
Von der Stirn bis hinunter zu ihrem Dekolleté zogen sich bläuliche Streifen. Aus ihren Lippen war jegliches Rot gewichen. Ihre Haut um Mund und Nase war so bleich wie Wachs.
»Was mache ich denn jetzt mit dir, du junges Ding?«
Er blickte auf die Tote vor sich, als erwarte er tatsächlich eine Antwort von ihr.
9 Am nächsten Tag, gegen neun Uhr
Als Laura zu Dienstbeginn mit der Meldung hereinschneite, dass niemand aus Haus Nummer 9a in der gleichen Funkzelle wie Lea eingeloggt war und auch niemand auf die Beschreibung des Mannes passte, schlug die Stimmung der beiden Frauen vollends in Ernüchterung um. Eva Lindenthal machte einen noch müden Eindruck. Sie war am Abend zuvor nach drei Gläsern Rotwein zwar selig eingeschlafen, aber am Morgen mit starken Kopfschmerzen erwacht.
Die Nachricht von Laura zog sie noch weiter herunter.
»Berichte kurz detaillierter«, bat die Kommissarin ihre Assistentin etwas zu harsch.
Laura spurte. »Von den acht Parteien in dem Haus habe ich fünf angetroffen. Einen älteren Mann, der nicht auf die Beschreibung passt, aber ein Erwachet!-Heft mit in seine Wohnung nahm; ein älteres Ehepaar, eine Mutter mit Kind, eine offensichtlich alleinstehende Dame und einen jungen, mutmaßlich noch minderjährigen Typen, aus dessen Wohnung es schwer nach Marihuana roch. Bisher also Fehlanzeige.« Laura wirkte zerknirscht. Sie drehte eine blonde Perücke unschlüssig in ihrer Hand. Die Perlen an ihren bunten Armbändern klingelten dabei leise.
»Nur nicht aufgeben. Die Sache mit der Erwachet!-Zeitschrift ist doch recht originell. Sendet die Wanze?«
»Ja, ich habe die IT-Abteilung instruiert, alles aufzuzeichnen, was uns der kleine Spion liefert.«
»Im Klartext heißt das, dass wir jemanden abhören, der sehr wahrscheinlich überhaupt nichts mit dem Mathilda-Fall zu tun hat. Das ist eine heiße Kiste. Wir verstoßen da gerade eindeutig gegen Gesetze.« Die Kommissarin sah alarmiert aus.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Laura und sah erwartungsvoll auf ihre Chefin.
Die rieb sich die Augen. »Wir warten ab, was die Wanze liefert, ansonsten schalten wir sie spätestens nach drei Tagen ab. Ich habe gestern Nachmittag noch mit der zuständigen Staatsanwältin telefoniert und ihr vom Ergebnis unseres Gesprächs mit der Mutter Leas berichtet. Zwar hat die Kollegin nicht ausgeschlossen, dass es weitere Ermittlungen geben soll. Doch ich glaube, herausgehört zu haben, dass ihr die Beweislage und die Anschuldigungen zu dünn sind, als dass sich der personelle und damit finanzielle Aufwand einer umfassenden polizeilichen Recherche lohnt. Und wenn ich jetzt dein Ergebnis höre, dann komme ich zu dem Schluss: Der Mann, der einst im Zusammenhang von Mathildas Verschwinden wegen seiner gleichzeitigen Einwahl ins Funknetz in das Visier der Ermittler geraten war, wohnt entweder nicht mehr in Haus Nummer 9a oder war zumindest von der Beschreibung von damals nicht derjenige, der Lea belästigt hat.«
Lindenthal nagte an ihrer Unterlippe. »Check doch mal, wann, wer aus dem Haus in den letzten Monaten um- oder ausgezogen ist. Und vielleicht macht eine diskrete Umfrage in der Schule unter den Acht- bis Zwölfklässlern Sinn, ob noch jemand diesen ominösen Tulpenverkäufer gesehen hat. Aber bitte, ohne Leas Namen zu nennen oder gar ein Bild zu zeigen. Ach so, und noch etwas: Um auf Nummer sicher zu gehen, soll Lea hier nochmals mit ihrer Mutter erscheinen und ein Phantombild erstellen. Mit diesen Maßnahmen ersparen wir uns Nachfragen, ob wir ausschließen können, dass es sich um ein und denselben Mann handelt.«
»Existiert denn überhaupt ein Foto oder sonst etwas von dem Kerl?«, erkundigte sich Laura.
»Soweit ich weiß, nein. Sie haben damals nur eine Funkzellenabfrage gemacht, und er war der einzige neben Mathilda, der vielleicht auch gerade telefonierte oder eine Nachricht schrieb. Wenigstens konnte man ihn über seinen Provider als Bewohner der Hospitalstraße 9a zuordnen. Und wie wir jetzt wissen, deckt sich dessen Name nicht mit denjenigen, die in Haus Nummer 9a wohnen. Richtig?«
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