Auf der Grundlage der EuGH-Entscheidung aus dem Jahre 1996, dass die phasengleiche Dividendenvereinnahmung nicht gegen das Realisationsprinzip im Sinne der EU-Bilanzrichtlinie verstoße, wenn die Geschäftsjahre von Mutter- und Tochtergesellschaft übereinstimmen, eine 100 %-ige Beteiligung besteht und die Feststellung des Jahresabschlusses der Tochter sowie der Gewinnverwendungsbeschluss vor Abschluss der Prüfung der Muttergesellschaft liegen,87 hatte der BGH für das Handelsrecht 1998 eine explizite Pflicht zur phasengleichen Dividendenvereinnahmung ausgesprochen.88
Der BFH schloss sich in verschiedenen Urteilen in den 1980er Jahren zunächst der BGH-Rechtsprechung an und wandelte das ursprünglich bestehende handelsrechtliche Aktivierungswahlrecht in ein steuerliches Aktivierungsgebot um.89 Im Jahre 1990 äußerte der zuständige Senat bereits Zweifel an der ergangenen BFH-Rechtsprechung;90 in einem Beschluss aus dem Jahre 2000 führte der Große Senat des BFH schließlich eine Abkehr von der bisherigen BFH-Rechtsprechung sowie auch der BGH-Rechtsprechung herbei: Eine phasengleiche Aktivierung der Dividendenforderung scheide auch bei Vorliegen der Kriterien der BGH-Entscheidung aus, sofern nicht ausnahmsweise „der mindestens ausschüttungsfähige Bilanzgewinn den Gesellschaftern bekannt ist und für diesen Zeitpunkt anhand objektiver Anhaltspunkte nachgewiesen ist, dass die Gesellschafter endgültig entschlossen sind, eine bestimmte Gewinnverwendung künftig zu beschließen“.91 Eine unterstellte Absicht des Gesellschafters der Gewinnverwendung zum Bilanzstichtag sei „eine innere Tatsache, die praktisch nicht bewiesen werden kann und die ihn vor allem nicht daran hindert, nach dem Bilanzstichtag seine Absichten zu ändern“; sie genüge deshalb nicht dem Grundsatz der Rechtssicherheit, der eine „Prüfung […] an Hand objektiver, nachprüfbarer und nach außen in Erscheinung tretender Kriterien“ verlangt.92
Begründet wird das explizite Abweichen von der BGH-Rechtsprechung mit „unterschiedlichen Sachgesetzlichkeiten“ von Handels- und Steuerbilanz.93 Das vom verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichheit der Besteuerung geprägte Steuerrecht als öffentliches Recht erfordere – so die Argumentation des BFH – eine strengere Objektivierung und somit auch eine restriktivere Auslegung des Wertaufhellungsprinzips als das von Gläubigerschutzinteressen geprägte Handelsrecht.94 Im Hinblick auf die Wertung des Gesetzgebers, die steuerliche Gewinnermittlung gemäß dem Maßgeblichkeitsgrundsatz an die handelsrechtlichen GoB zu knüpfen, mag diese Begründung nicht überzeugen, zumal für die Aktivierung von Dividendenforderungen keine steuerliche Sondervorschrift vorliegt.95 In der Literatur ist diese kasuistische Durchbrechung des Maßgeblichkeitsprinzips auf erhebliche Kritik gestoßen,96 ebenso wie auch der Verzicht des BFH, den Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe zur Aufhebung der Divergenz anzurufen.97
Im Zuge des Erlasses der EU-Bilanzrichtlinie im Jahre 201398 wurde den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt, die Vereinnahmung von Dividendenerträgen an das Bestehen eines Anspruchs auf Zahlung zu knüpfen und somit eine phasengleiche Dividendenvereinnahmung auszuschließen (Art. 9 Abs. 7 b) EU-Bilanzrichtlinie). In Deutschland wurde von diesem Wahlrecht im Zuge der Richtlinienumsetzung im HGB kein Gebrauch gemacht, weil die phasengleiche Dividendenvereinnahmung im Sinne der handelsrechtlichen GoB beibehalten werden sollte.99
Auf Basis dieser Rechtslage hat M den Anspruch auf Erhalt einer Dividende von T im handelsrechtlichen Jahresabschluss bereits zum Bilanzstichtag des abgelaufenen Geschäftsjahrs zu aktivieren und den entsprechenden Gewinn zu realisieren.
c) Berücksichtigung von Literaturmeinungen durch M als Erkenntnisquelle aufgrund fehlender konkretisierender Rechtsprechung
Zu der in § 272 Abs. 5 HGB verankerten Ausschüttungssperre ist bislang noch keine konkretisierende Rechtsprechung ergangen. Deshalb ist es aus Sicht der M sinnvoll, bei der Interpretation des Gesetzeswortlauts i.S.d. GoB das Schrifttum als Auslegungshilfe zu konsultieren. Folgt M der hier vertretenen Position, so hat sie die vereinnahmten Dividendenerträge aufgrund des fehlenden Rechtsanspruchs zum Bilanzstichtag in eine ausschüttungsgesperrte Rücklage einzustellen; die Ausschüttung der entsprechenden Gewinne an die Anteilseigner der M kann mithin erst im Folgejahr erfolgen.
In der deutschen Literatur werden die Anforderungen an den „Anspruch“ auf Zahlung der Dividende zur Bestimmung des Geltungsbereichs der Ausschüttungssperre in § 272 Abs. 5 HGB kontrovers diskutiert. In Einklang mit Kirsch , der in der fehlenden Spezifizierung des Anspruchs eine „Regelungslücke[.]“ sieht,100 propagiert Haaker eine Auslegung des behaupteten unbestimmten Rechtsbegriffs im Kontext des nationalen Bilanzrechts, in Deutschland innerhalb der handelsrechtlichen GoB, die aufgrund der zugrunde gelegten wirtschaftlichen Betrachtungsweise weder für den Ansatz von Vermögensgegenständen im Allgemeinen noch von Forderungen im Speziellen das Bestehen einer zivilrechtlichen Absicherung fordern.101 Haaker schließt hieraus, dass die Ausschüttungssperre innerhalb der handelsrechtlichen GoB „ins Leere laufe[.]“.102 Das IDW argumentierte im Rahmen seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf des BilRuG, für eine Ausschüttungssperre „bestehe […] kein Anlass“, weil der phasengleich vereinnahmte Dividendenertrag „bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise realisiert und damit als zum Vermögen des Gesellschafters gehörig anzusehen ist“.103 Es forderte deshalb eine Klarstellung in den Gesetzesmaterialien, dass an der bestehenden Praxis der phasengleichen Erfassung von Dividendenerträgen festgehalten werden kann.104
Der Arbeitskreis Bilanzrecht Hochschullehrer Rechtswissenschaft spricht sich hingegen für eine Auslegung als „ zivilrechtlich begründete[r] Anspruch“ aus, weil es dem Regelungszweck der Richtlinienvorschrift entspreche, den phasengleich vereinnahmten Gewinnanteil, der auf eine bilanzrechtlich zulässig aktivierte künftige Dividendenforderung im Rechtssinne entfällt, zur Sicherung des Kapitalschutzes von der Ausschüttung an die Gesellschafter auszuschließen.105 Auch ein Abgleich mit den unterschiedlichen Sprachfassungen der Richtlinie spreche für eine Auslegung des Anspruchs als Rechtsanspruch.106 In diesem Sinne legt auch Hoffmann den Anspruch im Lichte der Richtlinienintention aus und hält dementsprechend nur das Verständnis des Anspruchs „im Rechts sinne“ für eine „geltungserhaltend[e]“ Interpretation der Regelung zur Ausschüttungssperre.107
Ähnlich wie das IDW in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf hielt auch der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags in seiner Beschlussempfehlung zum Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz „einige Erläuterung“ zur Ausschüttungssperre vor der Gesetzesverabschiedung für geboten.108 Konkret sollte in den Gesetzesmaterialien darauf hingewiesen werden, dass es für die Entstehung des Anspruchs i.S.v. § 272 Abs. 5 HGB ausreiche, dass die Dividende „so gut wie sicher vereinnahm[t] wird“, auch wenn der den Rechtsanspruch begründende Gewinnverteilungsbeschluss noch ausstünde.109 Hermesmeier/Heinz unterstellen der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses Richtlinienkonformität und werten diese als ausdrückliche Billigung der Ausschüttbarkeit phasengleich vereinnahmter Dividendenerträge durch den Gesetzgeber.110
Allerdings wurde das Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz diesbezüglich unverändert, d.h. ohne die vom Rechtsausschuss geforderten Hinweise und zusätzlichen Erläuterungen zur Ausschüttungssperre, verabschiedet. Man wird der Meinung des Rechtsausschusses deshalb kein allzu großes Gewicht bei der Auslegung der Vorschrift zur Ausschüttungssperre einräumen können.111 Auch wird man angesichts der heterogenen Literaturmeinungen kaum der These von Zwirner zustimmen können, „nach h.M. [bestehe] kein Anwendungsbereich für die Ausschüttungssperre im HGB“.112
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