Sachverhalt:
Das in Form einer Kapitalgesellschaft betriebene Mutterunternehmen M hält 100 % der Anteile an dem Tochterunternehmen T. M plant, den im abgelaufenen Geschäftsjahr von T erwirtschafteten Gewinn vollständig auszuschütten. Der Jahresabschluss und somit auch der Gewinn von T werden nach dem Bilanzstichtag von M, aber vor dem Abschluss der Prüfung des Jahresabschlusses von M festgestellt; auch die Verteilung des Gewinns der T ist zu diesem Zeitpunkt bereits formal beschlossen.
Aufgabenstellung:
Hat M am Bilanzstichtag die Dividendenforderung nach handelsrechtlichen GoB gewinnwirksam zu aktivieren bzw. nach IFRS entsprechende Erträge zu erfassen?
I. Lösung nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Bilanzierung
1. Sinn und Zweck der handelsrechtlichen GoB
a) Dominante Ausschüttungsbemessungsfunktion
Der primäre Zweck der handelsrechtlichen Ansatz- und Bewertungsnormen ist die Ermittlung des entziehbaren Gewinns.1 Dieser entspricht dem Betrag, der an die Gesellschafter ausgeschüttet werden kann,2 ohne die zur Erzielung künftiger Gewinne notwendige wirtschaftliche Substanz des Unternehmens, den Vermögensstamm, zu vermindern.3
Bei der Konkretisierung von Gewinnansprüchen steht zum einen der „Schutz der Gewinnberechtigten vor Gewinnverkürzungen“ im Vordergrund.4 Das Bilanzrecht konkretisiert hierbei außerbilanzielle Zwecke – die qua Gesetz für die verschiedenen Gesellschaftsformen bestehenden Gewinnansprüche sowie die vertraglich vereinbarten Gewinnansprüche. Während im Rahmen der bilanziellen Gewinnermittlung die Höhe des erwirtschafteten und somit verteilbaren Jahresüberschusses bestimmt wird,5 handelt es sich bei der Ausschüttung um die Gewinnzuweisung an die Gewinnberechtigten,6 also eine Entscheidung über die Gewinnverwendung.7 Zum anderen dient die Gewinnanspruchsermittlung dem Schutz vor dem Ausweis fiktiver bzw. überhöhter Gewinne; dieser Zweck folgt aus dem Kapitalerhaltungs- und Gläubigerschutzgedanken.8
Der durch Vermögensvergleich „statisch“ ermittelte und somit als Vermögensmehrung konzipierte handelsrechtliche Jahresüberschuss9 ist nicht gleichzusetzen mit dem Zuwachs des Effektivvermögens im abgelaufenen Geschäftsjahr.10 Im Rahmen der im geltenden deutschen Bilanzrecht vorherrschenden „Ausschüttungsstatik“11 werden gemäß dem Realisationsprinzip nur diejenigen Reinvermögensmehrungen erfasst, die das Ergebnis eines Umsatzakts und somit „Vermögensmehrungen in disponibler Form“12 bilden. Die in der frühen Fortführungsstatik aus der Bewertung von Vermögensgegenständen und Schulden zu Zeitwerten folgenden unrealisierten Vermögenszuwächse verkörpern in handelsbilanzieller Wertung lediglich Gewinnhoffnungen,13 die „durch eine mögliche künftige Wertumkehr gefährdet sind“14; demgemäß ist der als Effektivvermögenszuwachs verstandene Gewinn als Ausschüttungsrichtgröße gänzlich ungeeignet.
Der handelsrechtliche Jahresüberschuss ist auch abzugrenzen von dem in der dynamischen Bilanztheorie als „Maßstab der Wirtschaftlichkeit der Unternehmung“15 konzipierten vergleichbaren Periodengewinn.16 Da die Handelsbilanz als „Ausschüttungsbilanz“17 nicht zwischen erzieltem und entziehbarem Gewinn unterscheidet,18 ist eine Beschränkung des Ansatzes von im Rahmen der periodengerechten Gewinnermittlung bestimmten Einnahmen- und Ausgabenpotenzialen durch objektivierende und vereinfachende Vermögensermittlungsprinzipien19 zwingend; der Ansatz reiner Verrechnungsposten ist somit ausgeschlossen.20
b) Subsidiäre Informationsfunktion
Dem handelsrechtlichen Jahresabschluss kommt neben der Aufgabe der Ermittlung des ausschüttbaren Gewinns auch die Funktion der Vermittlung von Informationen über die wirtschaftliche Unternehmenslage zu.21 Dies folgt aus § 238 Abs. 1 HGB, wonach jeder Kaufmann „die Lage seines Vermögens nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung ersichtlich zu machen“ hat; bei Kapitalgesellschaften hat der Jahresabschluss zusätzlich „unter Beachtung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zu vermitteln“ (§ 264 Abs. 2 HGB).
Aufgabe des handelsrechtlichen Jahresabschlusses ist im Rahmen der Informationsvermittlung folglich die Sicherung eines Mindesteinblicks in die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens. Dies schließt zum einen die im Insolvenzfall strafrechtlich sanktionierte Selbstinformation des Kaufmanns als Bestandteil seiner Sorgfaltspflichten, zum anderen die Information Dritter – insbesondere derjenigen Personengruppen, die qua Gesetz oder Vertrag Informationsansprüche gegenüber dem Unternehmen haben – ein.22 Auf der anderen Seite hat der Jahresabschluss aber auch gewisse Einblicksgrenzen zu sichern: So sind etwa Kapitalgesellschaften von bestimmten Angabepflichten befreit, wenn das Wohl der Bundesrepublik Deutschland oder eines der Bundesländer gefährdet ist (§ 286 Abs. 1 HGB) oder das Unternehmen einen erheblichen Nachteil erleiden würde (§ 286 Abs. 2 HGB).
Da für die beiden kardinalen Bilanzzwecke jeweils unterschiedliche Interessen festgestellt werden können (Mindestausschüttung versus Höchstausschüttung; Mindesteinblick versus Höchsteinblick), sind (gesetzgeberische) Wertungen und ihr Nachvollzug nötig. Im geltenden deutschen Bilanzrecht wird der zwischen Gewinnermittlung und Informationsvermittlung bestehende Konflikt mittels der sog. Abkopplungsthese aufgelöst: Vorsichts- oder objektivierungsbedingte Verzerrungen des Gewinns sind bei Kapitalgesellschaften durch zusätzliche Aufgliederung und Erläuterung der Gewinnkomponenten zu heilen.23
Mit Verkündung des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes (BilMoG) 2009 wurde zwar die Informationsfunktion der handelsrechtlichen GoB durch punktuelle Annäherungen an die IFRS gestärkt, die Ausschüttungsbemessungsfunktion besteht aber nach dem Willen des Gesetzgebers als zentraler „Eckpunkt[.] des HGB-Bilanzrechts“ fort.24
2. System der handelsrechtlichen GoB
a) Normensystem zur Konkretisierung der Gewinnanspruchsermittlung: Gewinnanspruchs-GoB
Es ist die Aufgabe von Regelsystemen der Rechnungslegung, Einzelregelungen den Schutzzwecken der Rechnungslegung entsprechend zu gestalten, um somit das Erreichen des Regelungsziels zu gewährleisten.
Nach § 242 Abs. 1 S. 1 HGB hat der Kaufmann in der Bilanz für jedes Geschäftsjahr „das Verhältnis seines Vermögens und seiner Schulden“ darzustellen; die Bilanz ist folglich eine „Vermögensbestandsrechnung“25. Das sog. Vermögensermittlungsprinzip bestimmt zum einen den bilanziellen Vermögensgegenstands- und Schuldbegriff, zum anderen schließt es den Ansatz reiner Verrechnungsposten, die bei Zugrundelegung der dynamischen Leitidee eine Gewinnglättung herbeiführen sollen, aus.26 Der bilanzielle Gewinn ist i.S.d. statischen Bilanztheorie als Reinvermögensmehrung definiert; er entspricht der Differenz des Reinvermögens zu Beginn und Ende des Geschäftsjahrs.27 Folgeprinzipien des Vermögensermittlungsprinzips sind die Prinzipien fortführungsorientierter, einzelbewertungsorientierter und wirtschaftlicher Vermögensermittlung.
Das Vermögensermittlungsprinzip gilt uneingeschränkt für Eröffnungsbilanzen, d.h. wenn es (ausschließlich) um die Einlagefähigkeit von Vermögensgegenständen geht; für Folgebilanzen, die der Gewinnverteilungs- und Ausschüttungsbemessung dienen, wird es durch das sog. Gewinnermittlungsprinzip eingeschränkt.28 Nach dem Gewinnermittlungsprinzip ist der Gewinn i.S.d. Realisationsprinzips (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB) umsatzgebunden zu ermitteln: Dies bedingt zum einen die Ertragsrealisation erst bei quasi-sicherem Zugang des aus Lieferung und Leistung resultierenden Anspruchs auf Gegenleistung, zum anderen die Aufwandsrealisation i.S.d. Zuordnung der Aufwendungen zu den zugehörigen Erträgen auf dem Wege der Ausgabenübertragung.29 Darüber hinaus ist der Gewinn i.S.d. Imparitätsprinzips (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB) verlustfrei zu bestimmen: Dies erfordert die Antizipation bereits entstandener, aber noch nicht realisierter Verluste – im Rahmen von gegenseitigen Verträgen durch Bildung von Drohverlustrückstellungen, bei Vermögensgegenständen und Schulden durch außerplanmäßige Abschreibung oder Zuschreibung.30
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