Die Auslegung und Konkretisierung von GoB obliegt jedoch – auch nach Verkündung des BilMoG – aufgrund ihrer fortbestehenden Rechtsnormqualität dem Gesetzgeber und, ersatzweise, den Zivil-, Straf- und Steuergerichten.58 Wegen des Grundsatzes der Gewaltenteilung sind die Gerichte zwar nicht zur Rechtsetzung befugt; durch die letztverbindliche Feststellung von Recht bilden sie aber faktisch das Recht fort.59
Für die Auslegung des HGB ist letztinstanzlich der Bundesgerichtshof (BGH) zuständig. Aufgrund der Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen GoB für die steuerliche Gewinnermittlung (§ 5 Abs. 1 EStG) hat aber auch der BFH über die Auslegung des Handelsbilanzrechts und die Feststellung von GoB zu entscheiden.60 Gemäß Beisse muss „[d]er Steuerrichter […] dies in der gleichen Weise tun, wie er es als Handelsrichter täte“61, d.h. „völlig losgelöst von steuerlichen Konsequenzen“62. Die Anzahl der bilanzrechtlichen Fälle, die vom BFH im Rahmen von Steuerstreitigkeiten zwischen der Finanzverwaltung und Steuerpflichtigen entschieden werden, ist deutlich höher als die Anzahl der GoB-bezogenen rein privatrechtlichen Fälle des BGH.63 Allein aufgrund dieser Tatsache kommt dem BFH bei der Konkretisierung der GoB materiell eine höhere Bedeutung zu als dem BGH. Wegen des Maßgeblichkeitsprinzips sind bilanzrechtliche Sachverhalte im Handels- und Steuerrecht einheitlich zu beurteilen, sofern keine vom Handelsrecht abweichende steuerliche Sondervorschrift besteht.64 Deshalb – und auch wegen des gesetzlich verankerten Grundsatzes der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe – dürfen bei der Auslegung handelsrechtlicher GoB keine Differenzen und Inkonsistenzen zwischen BGH- und BFH-Rechtsprechung bestehen.65
Literaturmeinungen sowie die Bilanzierungs- und Prüfungspraxis werden bei der Ermittlung von GoB als „wichtige Erkenntnisquelle“ anerkannt;66 sie stellen aber keinen „selbständigen juristischen Entstehungsgrund für Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung“ dar,67 weil ihnen die Kompetenz zur rechtsschöpferischen Gestaltung fehlt. Ihre Befolgung führt sogar zu einer GoB-widrigen Bilanzierung, wenn sie erkennbar im Widerspruch zur ständigen BFH-Rechtsprechung stehen, bspw. die in Praktikerkommentaren propagierte Teilgewinnrealisierung bei langfristigen Fertigungsaufträgen.68
Die gesetzliche Kompetenz des Deutschen Rechnungslegungs Standards Committee (DRSC) ist hinsichtlich der handelsrechtlichen Bilanzierung auf die „Entwicklung von Empfehlungen zur Anwendung der Grundsätze über die Konzernrechnungslegung“ begrenzt (§ 342 Abs. 1 Nr. 1 HGB). Für die vom Bundesministerium der Justiz (BMJ) bekanntgemachten Deutschen Rechnungslegungs Standards (DRS) besteht zwar die im Schrifttum zum Teil kritisierte Vermutung, dass die „die Konzernrechnungslegung betreffenden Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung“ beachtet wurden (§ 342 Abs. 2 HGB);69 aufgrund der privatrechtlichen Organisation des DRSC haben die Standards jedoch lediglich Fachnormcharakter und somit für die Bilanzierenden keinen über Empfehlungen hinausgehenden Verbindlichkeitscharakter; ihre Befolgung liefert auch keine Rechtssicherheit im Falle einer gerichtlichen Überprüfung.70 Während sich das DRSC in der Vergangenheit entsprechend seinem gesetzlichen Auftrag ausschließlich der Konkretisierung von GoB die Konzernrechnungslegung betreffend angenommen hatte, wurde mit DRS 24 „Immaterielle Vermögensgegenstände im Konzernabschluss“ erstmals ein Standard vorgelegt, der sich trotz anderslautenden Titels im Wesentlichen mit „Zweifelsfragen“ bei der Auslegung von handelsrechtlichen Vorschriften zum Jahresabschluss befasst und dementsprechend auch die Anwendung im Jahresabschluss empfiehlt (DRS 24.1 f. und 24.6). Zu Recht wird diese von Hoffmann gar als „Etikettenschwindel“71 bezeichnete Kompetenzüberschreitung im Schrifttum vehement kritisiert.72 Der u.a. im Beck’schen Bilanzkommentar vertretenen Auffassung, die vom DRSC herausgegebenen Standards könnten „auch eine Ausstrahlungswirkung auf die GoB für den JA [Jahresabschluss] haben“73, ist nicht zuzustimmen. Aufgrund der fehlenden Gesetzeskompetenz des DRSC zur Konkretisierung handelsrechtlicher GoB und der Einheitlichkeit der GoB für Jahres- und Konzernabschluss bezüglich aller konzernunspezifischen Sachverhalte kann der DRS 24 rein normativ betrachtet keine Relevanz haben, zumal auch die vertretenen Wertungen teilweise, bspw. bezüglich des Vermögensgegenstandsbegriffs, nicht in Einklang mit der BFH-Rechtsprechung stehen und somit auch nicht GoB-konform sind.74
Ähnliches gilt für die Rechnungslegungsempfehlungen des Instituts der Wirtschaftsprüfer (IDW), das als privatrechtlich organisierter Verein ebenfalls keine Normsetzungskompetenz im Bereich der Rechnungslegung hat.75 Die fehlende Rechtsverbindlichkeit der IDW-Rechnungslegungshinweise zeigt sich auch darin, dass diese in der Vergangenheit bei mangelndem Einklang mit den GoB vom BFH explizit abgelehnt wurden, so etwa die vom IDW wahlrechtsweise zugelassene Komponentenabschreibung76 sowie die vom IDW vertretene Auslegung zur voraussichtlich dauernden Wertminderung bei im Anlagevermögen gehaltenen börsennotierten Aktien77.
4. Anwendung auf den Fall
a) Feststellung der für das Bilanzierungsproblem der M einschlägigen Gesetzesnorm
Im vorliegenden Fall handelt es sich um ein Problem der Gewinnrealisierung bei der M. Konkret stellt sich die Frage, ob bereits im Jahr der wirtschaftlichen Entstehung des Gewinns die Dividende, über deren Ausschüttung erst im Folgejahr formal mittels Gesellschafterbeschlusses entschieden wird, erfolgswirksam im Jahresabschluss der M zu erfassen ist (sog. phasengleiche Dividendenvereinnahmung). Das für die Gewinnrealisierung einschlägige übergeordnete Prinzip ist das in § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB verankerte Realisationsprinzip. Gemäß Gesetzeswortlaut sind „Gewinne […] nur zu berücksichtigen, wenn sie am Abschlußstichtag realisiert sind“. Unter welchen Umständen diese Bedingung erfüllt ist, wird im Handelsgesetzbuch nicht konkretisiert.
Aber auch wenn eine phasengleiche Dividendenvereinnahmung bei der M zu bejahen wäre, stellte sich für M weiterhin die Frage der Ausschüttbarkeit dieser Dividendenerträge. Denn es wurde im Zuge des Erlasses der EU-Bilanzrichtlinie im Jahre 201378 verpflichtend für alle Mitgliedstaaten eine Ausschüttungssperre für Dividendenerträge verhängt, auf deren Zahlung die Gesellschaft noch keinen Anspruch hat oder die noch nicht zugeflossen sind (Art. 9 Abs. 7 c) EU-Richtlinie). Nachdem der deutsche Gesetzgeber im Referentenentwurf zum Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz die obligatorische Einführung der Ausschüttungssperre noch versäumt hatte,79 wurde eine entsprechende richtlinienwortlautgetreue Vorschrift in den Regierungsentwurf80 sowie auch in das finale Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz (2015)81 aufgenommen. Unklar verbleibt allerdings, ob das gesetzliche Erfordernis des Bestehens eines Zahlungsanspruchs auf einen Rechtsanspruch abstellt oder ob die wirtschaftliche Entstehung des Anspruchs, wie sie bei phasengleich vereinnahmten Dividendenerträgen gemäß Realisationsprinzip gegeben ist, für die Ausschüttbarkeit ausreicht.82
b) Heranziehen höchstrichterlicher Rechtsprechung zu vergleichbaren Sachverhalten durch M aufgrund des auslegungsoffenen Gesetzeswortlauts
Aufgrund fehlender konkreter gesetzlicher Regelungen hat M zur Bestimmung des Zeitpunkts der erfolgswirksamen Aktivierung des Dividendenanspruchs ersatzweise die Rechtsprechung heranzuzuziehen. Der BGH hat sich erstmals in einem Urteil aus dem Jahre 1975 mit der Frage der phasengleichen Dividendenvereinnahmung im Falle einer Mehrheitsbeteiligung auseinandergesetzt und diese für zulässig erachtet, gleichwohl aber eine mögliche handelsrechtliche Aktivierungspflicht offengelassen.83 Auch wenn rechtlich die Dividendenforderung erst mit dem formalen Gewinnverwendungsbeschluss im Folgejahr entsteht, habe sich der Anspruch wirtschaftlich bereits im abgelaufenen Geschäftsjahr verfestigt, denn „[e]in mit Mehrheit beteiligtes Unternehmen [hat es …] weitestgehend selbst in der Hand, eine von ihm gewünschte Gewinnverteilung bei der Beteiligungsgesellschaft tatsächlich durchzusetzen“.84 Wurde der Jahresabschluss des Tochterunternehmens vor Abschluss der Prüfung des Jahresabschlusses der Muttergesellschaft festgestellt und ein entsprechender Gewinnverwendungsbeschluss schon gefasst, sei die Information über die Gewinnhöhe im Sinne einer „objektiven Wertaufhellung“85 in die Beurteilung der Stichtagsverhältnisse einzubeziehen und beseitige somit etwaige Unsicherheiten hinsichtlich der Höhe des aktivierbaren Anspruchs.86
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