Ortsfeste, öffentliche Schriftlichkeit findet sich in städtischen Gebieten – vor allem in den Innenstädten – in geballter Form (GORTER 2006: 2). GORTER stellt daher fest, dass man statt von einer Linguistic Landscape auch von einer „linguistic cityscape“ sprechen könne (2006: 2). Auch Graffitis lassen sich in städtisch geprägten Gebieten in weitaus größerer Zahl entdecken als in Kleinstädten und Dörfern.1 TOPHINKE bezeichnet das Herstellen von Graffitis daher auch als „urbane Praktik, die die Stadt nicht nur als Aktionsraum nutzt, sondern die zur Konstruktion des städtischen Raumes selbst wesentlich beiträgt“ (2016: 411). Die Praktik des Graffitiherstellens ist somit nicht nur mehrheitlich im urbanen Raum zu finden, sondern die Artefakte der Praktik tragen selbst wesentlich zur Konstruktion von Urbanität bei.
Im urbanen Raum werden Graffitis prinzipiell auf allen zur Verfügung stehenden Oberflächen angebracht: Sie finden sich auf Zügen, Hauswänden, Mauern, Bänken und sogar an Baumstämmen.2 Bei genauerer Betrachtung geben sich allerdings einige Bereiche der Stadt zu erkennen, die bevorzugt besprüht werden (TOPHINKE 2016: 411). Es handelt sich dabei in der Regel um Räume, die von vielen Menschen frequentiert werden, dabei jedoch nicht zum Verweilen auffordern. Sie werden auch „Transiträume“ genannt und zeichnen sich dadurch aus, dass sie „in der Regel zu raschem Durchschreiten [veranlassen] und […] den Aufenthalt auf funktionale Notwendigkeiten“ begrenzen (BRECKNER 2008: 210).3 NEEF (2008: 302) argumentiert ähnlich und greift dabei das Konzept der „Nicht-Orte“ von AUGÉ ([1992], 1994)4 auf. Sie stellt fest, dass Graffitis häufig an Orten wie Bahnhöfen, Tunneln und Unterführungen zu finden sind und daher oft „erst vom Fenster eines Autos, eines Busses oder eines Zuges sichtbar“ werden (NEEF 2008: 302). Für die Rezeption der Graffitis bedeutet das, dass sie von Passanten oft aus der Bewegung heraus – also eher flüchtig und beiläufig – wahrgenommen werden.
Öffentliche Räume und insbesondere die eben genannten Transiträume sind darauf ausgerichtet, dass sich Individuen in ihnen bewegen: Menschen, Tiere und auch Objekte (z.B. Autos oder Busse) durchqueren sie in verschiedenen Geschwindigkeiten. Das Bewegen ist dabei durch die Bebauung reguliert; Nutzungsmöglichkeiten und -wege sind also vorgegeben (SCHWANHÄUSSER 2009: 126). Hofdurchgänge sind beispielsweise zum Passieren gedacht, Straßen zum Entlanggehen, Imbissbuden zum Essen und Einkaufspassagen zum Konsumieren (SCHWANHÄUSSER 2009: 126). „Diese tendenzielle Normierung des Stadtraums […] führt auch zu einer Normierung des Verhaltens, verengt die Handlungsmöglichkeiten“ und stellt eine soziale Ordnung her, in der genaue Vorstellungen über angemessenes Verhalten im öffentlichen Raum bestehen (SCHWANHÄUSSER 2009: 126). An dieser Stelle zeigt sich erneut das subversive Moment des Szenegraffitis, denn Graffitiwriter – so könnte man sagen – unterwandern die soziale Ordnung des Raums, indem sie ihn umdeuten und stattdessen für ihre jeweiligen kommunikativen, performativen und expressiven Absichten nutzen (EDWARDS-VANDENHOEK 2017: 55).
Wenn man das Herstellen von Graffitis als Praktik versteht, so sind Graffitis als Artefakte dieser Praktik zu perspektivieren (TOPHINKE 2016: 421ff.).1 Sie verbleiben als Ergebnis der Sprühaktivitäten im öffentlichen Raum, während die Handlung längst abgeschlossen ist. Eine praxistheoretische Perspektive auf sprachliche Phänomene wird in der Linguistik seit einigen Jahren neu diskutiert und Untersuchungen zugrundegelegt, weil sie nicht nur „eine feingranulare und auf Variation angelegte Beschreibung sprachlicher Formen in actu“ ermöglicht, sondern auch deren Einbindung in soziale Handlungsmuster betont (EICHINGER 2016: XI). Beim Thema Graffiti rückt die praxistheoretische Perspektive stärker die den Graffitis zugrunde liegenden Handlungen in den Fokus. Dies erscheint sinnvoll, denn – wie PENNYCOOK herausstellt – „Graffiti are very much about production“ (2009: 306).
Die Herstellung von Graffitis kann als Praktik beschrieben werden, weil es sich um körperliche Bewegungen handelt, die klar auf Wiederholung angelegt sind. Insbesondere das Anbringen der Tags kann als routinisierte Handlung bezeichnet werden. DEPPERMANN ET AL. stellen heraus, dass Praktiken „soziale Strukturen, d.h. nicht kreative, individuelle Lösungen, sondern sozial konsentierte Routinen […]“ sind (2016: 8). Obwohl die Graffitinamen selbst äußerst kreativ und individuell sind, liegen dem Prozess ihrer Herstellung typische Bewegungsabläufe zugrunde.
In einer praxistheoretischen Perspektive lassen sich für die Graffitis beispielsweise Strukturen erkennen, die auf die Dynamik der Herstellung hinweisen (TOPHINKE 2016: 425). Denn im Unterschied zum „normalen“ Signieren, wie es etwa an der Supermarktkasse erfolgt, macht beim Herstellen eines Tags typischerweise der ganze Körper die Bewegungen mit (TOPHINKE 2016: 415). Aspekte dieser Körperlichkeit werden etwa in den Buchstabenausläufen besonders sichtbar, die oft eine Linksbewegung enthalten, damit die schwungvoll ausgeführten Bewegungen auslaufen können (TOPHINKE 2016: 415). Dicker und dünner werdende Linien sowie transparentere oder intensivere Farbgebung zeigen ebenfalls die Körperlichkeit der Graffitiherstellung an. Der Writer muss den Arm bzw. den Körper beim Sprühen dementsprechend zur Wand hingeführt oder von der Wand entfernt haben. Auch bei der Produktion der flächig gestalteten Namenszüge wird der ganze Körper eingebunden: „Es bedarf jeweils großer, dynamischer, gleichwohl kontrollierter Körperbewegungen“ (TOPHINKE 2016: 416). Der Herstellungsprozess der Throw Ups und Pieces erfordert demzufolge andere Bewegungsabläufe und erinnert vielmehr an das Malen großflächiger Bilder. Die Buchstaben werden – anders als bei den Tags – nicht in einer Handbewegung von links nach rechts geschrieben, sondern entstehen in mehreren Arbeitsschritten.
Graffitis werden auch durch die räumlichen und sozialen Bedingungen ihrer Herstellung beeinflusst. Da die Handlungen illegal sind, erfordert das Sprühen eine gewisse Wachsamkeit, um nicht von der Polizei ertappt zu werden. Graffitis werden daher typischerweise schnell angebracht und die Writer stehen beim Sprühen unter Anspannung. Die Graffitis lassen die Schnelligkeit der Bewegungen teilweise erkennen, etwa, wenn die Schrift besonders zackig wirkt. Außerdem werden die Werke typischerweise nachts angebracht, was die Lichtverhältnisse bei der Produktion beeinflusst. Der Writer RAZOR, der im norddeutschen Raum aktiv ist, erklärt beispielsweise im Interview mit Stylefile , dass sich die nächtliche Produktionssituation auf seine Farbwahl auswirkt:
[M]eine Bilder [sind] sehr kontrastreich und in der Ausführung flüchtig umgesetzt, weil die Bilder immer im Dunkeln und unter Zeitdruck entstehen. Die meisten meiner Pieces gefallen mir im dunklen Yardlicht besser. Dort werden die Farben zu grautönen, die ich versuche im Bild harmonisch anzuordnen. Die Farbharmonie in der Nacht entpuppt sich am Tageslicht meistens als Trugschluss und lässt das Bild dann ganz anders wirken. (RAZOR zitiert nach Stylefile 45/2015, online verfügbar auf ilovegraffiti.de)2
Kontrastreichtum und grelle Farben sind demzufolge mitunter auch auf die Dunkelheit während der Herstellung zurückzuführen. Daran zeigt sich, dass Eigenschaften der Graffitis wie Linienführung und Farbgebung vor dem Hintergrund der Praktik, in die sie eingebettet sind, zu interpretieren sind.
Graffiti wird als Bezeichnung für technisch und visuell ganz unterschiedlich gestaltete Werke verwendet. Beim Szenegraffiti handelt es sich jedoch um eigenständige Formen öffentlicher, ortsfester Schriftlichkeit, die von anderen Formen, die mitunter ebenfalls als Graffiti bezeichnet werden, abzugrenzen sind. Die Eigenständigkeit des Szenegraffitis lässt sich an verschiedenen Eigenschaften und Aspekten festmachen, die hier – unter Bezugnahme auf die Erkenntnisse der verschiedenen linguistischen Forschungsfelder – dargestellt wurden.
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