»Ja«, sage ich ungeduldig, »und was vermutest du?«
»Die zerstören gerade mein Lebenswerk! Die zerstören meinen Gletscher!«, schreit er. »Das ist eine Katastrophe! Meine Daten!«
Im Archiv der Universität Wien stoße ich auf die Fotos von Friedrich Simony. Simony machte 1875 eine Expedition auf den Dachstein. Er nahm zu dieser beschwerlichen und gefährlichen Besteigung einen Fotografen mit. Damals kannte die Öffentlichkeit die Gletscher und Hochgebirge nur von prächtigen Ölgemälden, Fotografien aus den eisigen Höhen gab es noch nicht. Einige Geologen bezweifelten sogar noch, dass es auf Kalkbergen überhaupt Gletscher gab. Den Schnee, den so viele schon gesehen hatten – übrigens auch Erzherzog Johann während einer Dachsteinbesteigung –, interpretierten sie von ihren Studierstuben aus als »Schnee-Eisfelder«. Die Bilder von Simony und dem Fotografen Alois Elssenwenger waren eine Riesensensation. Simony war von der neuen Technik der Fotografie mit Trockenplatten begeistert und machte sich ein Jahr später alleine zum Gletscher auf. Er brachte Dutzende neuer Ansichten mit, die er sogar Kronprinz Rudolf in einem »photographischen Dachsteinalbum« überreichen durfte. Damit war er sich der Unterstützung von Seiner Majestät dem Kaiser sicher.
Simony war einer der ersten, der eine Eiszeit in den Alpen propagierte. Er war überzeugt, dass die Alpen unter einem großen Gletschermeer begraben waren. Er fand für diese damals äußerst kühne und umstrittene These auch einen Beweis: Die Gipfel waren scharfkantig, im Tal aber war das Gestein glatt. Dafür gab es eigentlich für die Zeitgenossen nur eine Erklärung. Die Gipfel hatten aus dem Eis geragt, im Tal hatte das Eis das Gestein glatt geschliffen.
Simony entdeckte auch, dass sich die Gletscher verändern. Um 1846 wuchsen die Gletscher sogar noch. Simony entwickelte eine einfache Methode, um zu beweisen, dass das Eis vorrückte. Er setzte Markierungen in der Felswand – und siehe da, im übernächsten Jahr waren die Markierungen nicht mehr zu sehen. Das Eis hatte die Markierungen überwuchert, damals war der Gletscher um zwölf Meter gewachsen. Außerdem machte er Jahr für Jahr Fotos vom selben Standpunkt aus und dokumentierte auf diese Weise, wie sich der Gletscher veränderte. Weil er beim Fotografieren nicht frieren wollte, baute er sich kurzerhand einen Unterstand, die spätere Simonyhütte.
Simony war ein Vorreiter der Gletscherwissenschaft: Er zeigt auf seinen Fotografien keine Naturstimmungen und kein Wetter, der Himmel ist wolkenlos. Von Gletscherromantik keine Spur. Wichtig sind nur Eis und Schnee.
Ich nehme das Bild, das Simony als Pionier der Gletscherfotografie ausweist, das Bild vom Karls-Eisfeld. Er stellte seine Kamera immer wieder auf derselben Stelle auf. 1875, 1886 und 1890 machte er Bilder vom Karls-Eisfeld. Heute ist dort der Untere Eissee zu sehen, Mitte des 19. Jahrhunderts war der ganze Kessel von Eis überdeckt. Ich werde den Blick vom Taubenkogel auf den Unteren Eissee neu aufnehmen.
Treffpunkt ist bei einem der großen Gletscherseen. Er ist tiefgrün, dichte weiße Wolken spiegeln sich auf seiner Oberfläche. Ich muss erst eine kurze Pause einlegen, bevor ich ein paar Aufnahmen machen kann. Mein Herz rast, ich kann meine Atmung gar nicht mehr kontrollieren, ich keuche nur noch. Die Ausrüstung hängt wie Blei auf meinem Rücken. Die Digitalkameras werden zwar immer kleiner und leichter, aber das Stativ ist immer noch so schwer wie früher.
»In drei Stunden schaffen Sie den Aufstieg locker«, hat der Gletscherhydrologe gesagt. »Ich warte oben auf Sie, ich gehe schon zeitig in der Früh weg, um mit meinen Messungen fertig zu werden«, hat er gesagt.
Ich habe jetzt sechs Stunden gebraucht. Dabei bin ich wirklich zügig gegangen.
»Trau nie den Zeitangaben der Einheimischen«, hat mir schon mein Auftraggeber von der Umweltschutzorganisation gesagt. »Minimum eine Stunde dazurechnen!« Dann hat er mich von oben bis unten gemustert und gemeint, zwei Stunden wären vielleicht realistischer. Und gegrinst hat er dabei, aber alles andere als nett.
Der Gletscherhydrologe sieht mich von Weitem und kommt mir entgegen.
»Jetzt wird’s aber Zeit«, sagt er, »in einer Stunde müssen wir absteigen, sonst kommen wir in die Dunkelheit.«
Das Licht flimmert blau. Der Hydrologe zappelt herum, ihn fotografisch einzufangen, ist nicht leicht.
»Das ist das Gold der Zukunft«, sagt er und zeigt auf den Gletschersee.
Er zeigt mit dem Finger auf den See. So hat er sich vermutlich für ein Boulevardblatt schon einmal in Pose gesetzt.
»Bereits jetzt leidet die Hälfte der Menschheit unter Wassermangel.«
»Ich nicht«, sage ich, um ihn ein wenig aufzulockern. »Mir rinnt das Wasser den Rücken herunter.«
Er sieht mich kurz irritiert an und sagt dann: »Wenn wir es schaffen, den Temperaturanstieg auf zwei Grad zu begrenzen, dann verlieren die Gletscher bis zum Jahr 2100 rund vierzig Prozent ihrer Masse. Wenn es um vier Grad wärmer wird – wovon ich persönlich ausgehe –, dann verlieren die Gletscher zwei Drittel ihrer Masse.«
»Was heißt ›verlieren‹, wo ist das Wasser dann?«, frage ich.
»Das ist dann im Meer und lässt den Meeresspiegel um gut zwanzig Zentimeter steigen. Global betrachtet.«
»Nur durch Gletscherwasser? Ohne Grönland und Antarktis?«
»Ja, nur durch Gletscherwasser. Denken Sie nur, zwanzig Millionen Menschen sind abhängig vom Gletscherwasser. Wenn der letzte Tropfen abgeronnen ist, dann gibt es eine Katastrophe.«
Ich muss mich auf meine Arbeit konzentrieren. Sie sind immer alle so mitteilungsbedürftig. Still beobachtet zu werden hält niemand mehr aus. Ich weise ihn an, sich hinzuknien und seine Wasserproben zu nehmen. Er fragt, wo er hinsehen soll. Ich sage, er soll sich einfach auf seine Arbeit konzentrieren und mich vergessen. Das dürfte ziemlich schwierig sein, er bewegt sich sehr ungelenk. Aber das Licht ist sensationell. Die Sonne verschwindet ganz flach hinter dem Gipfel und flimmert noch ein wenig.
Beim Abstieg wird es schon duster. Ich bin jetzt froh, dass er viel redet. Ich bemühe mich, genau in seinen Tritt zu steigen, der Steig ist an manchen Stellen sehr eng, und die Felswand fällt steil ab. Beim Aufstieg ist mir das nicht aufgefallen. Ich rutsche aus, er geht vor mir und bremst mich ab. Er erzählt von der Kleinen Eiszeit.
»Das war die beste Zeit für die Gletscher. Danach, so um 1900, haben die Gletscher angefangen sich zurückzuziehen. Und das tun sie noch heute. Wir sehen also noch immer die Nachwirkungen der Kleinen Eiszeit«, sagt er. »Sie bestimmen jetzt gerade die Oberflächenmassenbilanz der Gletscher, das heißt sie bestimmen, wie viel Schnee jedes Jahr auf den Gletschern landet und wie viel Eis jedes Jahr abschmilzt. Mit dem Modell können sie dann das Fließverhalten der Gletscher simulieren.«
Ich höre schon gar nicht mehr zu, denn es ist finster, und ich sehe meine eigenen Füße nicht mehr. Er packt zwei Stirnlampen aus und gibt mir eine.
»Wir hätten uns früher verabreden sollen«, sagt er.
»Wie lange haben wir denn noch?«, frage ich, inzwischen ohne jede Orientierung.
»Wir haben noch rund eine halbe Stunde im felsigen Gebiet, dann geht’s leichter.«
Er geht minutenlang schweigend vor mir her. Dann dreht er sich plötzlich um und leuchtet mich direkt an. Er blendet mich, ich halte mir die Hand vor die Augen.
»Diese Massenbilanz beunruhigt mich«, sagt er.
Ich habe jetzt wirklich andere Sorgen als eine aufregende Massenbilanz. Er könnte mir zum Beispiel mein Stativ abnehmen und es tragen.
»Wir haben weltweit einige Gletscher, von denen wir keine schlüssigen Daten bekommen.«
»Was heißt ›schlüssige Daten‹?«, frage ich.
»Wir modellieren den Niederschlag, die Ablation, den Abfluss, wir berechnen die Albedo, die Sonneneinstrahlung, den Temperaturanstieg, alles! Aber uns fehlt Gletscherwasser. Uns fehlen enorme Mengen an Gletscherwasser!«
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