Ich stelle mein Stativ auf und fotografiere das Gletscher-Panorama, bevor ich im Berg zurück hinauf und zu den Punkten gehe, die mir die Umweltschutzorganisation aufgetragen hat. Von dort aus werden jedes Jahr Fotos gemacht, bis der Gletscher endgültig verschwunden sein wird. Der Fotograf, der das bisher gemacht hat, ist gestorben. Gut, dass er das Ende nicht erlebt, haben die Umweltschützer gesagt, das hätte er nicht verkraftet. Ich habe seine Fotos aus den Sechzigerjahren mit, die Perspektive muss stimmen, damit die Bilder dann im Zeitraffer geschnitten und abgespielt werden können. Damit die Dramatik besser zur Wirkung kommt.
Der Professor hat angeboten, mit mir auf den Gletscher zu fahren. Er kennt den Gletscher wie kein anderer. Seit fünfzig Jahren schon macht er Messungen auf dem Berg. Während seiner Studentenzeit hat er damit begonnen, aus reinem Forscherinteresse, sagt er. Erst im Lauf der Jahre stellte sich heraus, wie wertvoll eine derartige Langzeitreihenmessung ist.
»Das sind Daten, die kann mir niemand mehr nehmen«, meint er. »Die Forscher werden untereinander immer misstrauischer. Die Jungen eignen sich Daten an, die ihnen nicht gehören. Die wissen gar nicht mehr, dass man ins Feld hinaus muss, um Datenreihen zu bekommen. Dass man durch meterhohen Schnee waten muss, in Gletscherspalten zu stürzen droht und mit eisigem Wind zu kämpfen hat. Dass man meterhohe Schneeschächte graben muss. Die glauben, die Daten sind von alleine im Internet, die muss man nur herunterkopieren. Ich bin der einzige weltweit, der so lange Messreihen hat – fünfzig Jahre«, sagt er triumphierend zu mir. »Weltweit! Meine Daten kennt jeder Glaziologe von Grönland bis Chile! Ich hab 1963 begonnen, das war das erste Haushaltsjahr, und durch Extrapolationen und Berechnungen komm ich mit der Messreihe bis in die Vierzigerjahre zurück. Gut, es gibt noch andere Messreihen, die über fünfzig Jahre gehen, aber die hat nicht ein Forscher alleine gemacht. Ich kenne den Gletscher wie kein anderer.«
Der Gletscher hat ein Eigenleben. Er kommt und er geht. Es ist nicht so, dass er sich immer nur zurückzieht. Es hat Jahre gegeben, da ist der Gletscher vorgerückt. 1965, das war ein unheimlich spannendes Jahr, da waren die Sommer kühl und die Winter schneereich, daher haben die Gletscher an Masse aufgebaut, sie haben wieder vorzustoßen begonnen. Das Sonnblickkees-hat zehn Millionen Kubikmeter an Masse zugenommen, da hat sich ein riesiges Nährgebiet aufgebaut.
»Was glauben Sie, wie die jungen Kollegen neidisch sind, dass ich noch einen Vorstoß erlebt habe! Und gemessen habe!«
Als wir am Gletscherrand ankommen, zeigt mir der Professor eine Hinweistafel: »Gletscherlehrpfad«. Er zieht seine Jacke aus, lässt die Sonne auf seine braungebrannten Arme strahlen. Er ist trotz des Aufstiegs überhaupt nicht verschwitzt.
»Den haben sie ohne mich gemacht«, sagt er.
Ich weiß nicht, ob er mehr enttäuscht oder verärgert ist.
»Den haben sie ohne mich gemacht«, sagt er noch einmal. »Davon hab ich nichts gewusst. Und jetzt ist der Lehrpfad voller Fehler, ein Wahnsinn!«
Der Professor will mit mir den Lehrpfad abmarschieren und mir alle Fehler zeigen.
»Ja, gerne«, sage ich, »aber lieber später«.
Ich will zuerst meine Fotos machen. Wir sind schon um drei Uhr in der Früh aufgestanden, um ein schönes Licht zu haben. Jetzt ist das Licht hervorragend.
»Herrlich«, sage ich. »Das sollten wir nutzen.«
»Wie lange wird der Gletscher noch da sein?«, frage ich, während ich die schmutzigen Schneereste in den Fokus nehme.
»Wenn es so weitergeht, ist das Kees in dreißig Jahren verschwunden. Man spricht davon, dass in fünfzig Jahren nur noch die Hälfte der Gletscher da sein wird, und wenn die Erwärmung so schnell voranschreitet, dann könnten in hundert Jahren nur noch vielleicht zehn bis fünfzehn Prozent der jetzigen Alpengletscherfläche da sein«, sagt der Professor. »Den hier will ich jedenfalls bis zum bitteren Ende begleiten. Mal sehen, wer zuerst verschwindet.«
Der Professor grinst.
Der Professor hat noch immer ein kleines Büro an der Universität. Und das, obwohl er schon seit zehn Jahren in Pension ist. Dank seiner Messreihe kann er jedes Jahr wieder Fördergelder aufstellen und zwei Assistenten beschäftigen. Einer von ihnen soll später einmal die Messreihe übernehmen. Das Schlimmste wäre, wenn es zu einer Lücke käme. Dann wären all die Jahre umsonst gewesen. Der Professor hat kein Jahr ausfallen lassen. Als er sich einmal im Urlaub ein Bein gebrochen hat, ist er pünktlich wie jedes Jahr zu seinen Messpunkten gegangen. Es war eine Qual und ein Kampf gegen die Schmerzen und gegen den Berg, aber er hat es geschafft. Auf seinem Schreibtisch liegen stapelweise Artikel. In den Regalen stehen Bücher, die sich blockweise aneinanderreihen. Es sind Bücher, die er selbst geschrieben hat. Bücher, die noch in Folie verpackt und dutzendweise eingereiht sind. Dazwischen liegen überall Steine. Er nimmt einen Stein und gibt ihn mir in die Hand.
»Das Stück, das Sie jetzt in Händen halten, ist zehntausendzweihundert Jahre alt«, sagt er stolz.
Ich zucke automatisch zurück.
»Kann ich das einfach so halten, ohne Handschuhe?«, frage ich.
Der Professor lacht.
»Das ist nur Holz. Das ist ein Baumstamm von einer Zirbe. Dort, wo heute die Gletscherzunge ist, war damals ein Zirbenwald. Der war schon im Labor und ist durchanalysiert.«
Er kramt herum und sucht etwas. Einen Schlüssel. Er schließt damit den Aktenschrank auf und nimmt ein Fotoalbum heraus. Das Album ist voll mit historischen Fotografien.
»Da, schau«, sagt er.
Ich weiß nicht, was er meint. Ich sehe den Gletscher in seiner vollen Pracht.
»Warte«, sagt er und hält mir Satellitenaufnahmen vor die Nase.
»Dein Herz schlägt auch für den Gletscher«, sagt er. »Das hab ich gleich gesehen.«
Ich nicke.
»Siehst du«, sagt er, »der Gletscher verändert sich. Ich gehe immer am gleichen Tag. Vier Mal im Jahr. Jedes Jahr. Das sind Stellen, da kommt sonst keiner hin. Da spazierst du nicht mal so eben vorbei.«
Er macht eine bedeutungsschwangere Pause.
»Ich habe Bohrlöcher gefunden. Probebohrungen. Irgendjemand bohrt meinen Gletscher an.«
»Bohrlöcher wofür?«, frage ich.
»Ich habe keine Ahnung. Es gibt kein Projekt da oben, das ist alles Naturschutzgebiet. Da gibt’s nichts zu bohren.«
»Vielleicht ein Forschungsprojekt?«, frage ich.
Der Gletscherforscher schnaubt.
»Das wüsste ich!«, sagt er laut. »Ich gehe nächste Woche wieder hinauf. Außerplanmäßig.«
Die Umweltschutzorganisation hat mir für jedes neue Foto ein Extrahonorar geboten. Jedes neue Foto heißt, ein historisches Gletscherfoto zu finden und es mit dem heutigen Zustand zu vergleichen. Das Abschmelzen sichtbar zu machen. Sie sagen, sie brauchen das gar nicht unbedingt für die Dokumentation des Klimawandels, den bezweifelt inzwischen niemand mehr. Außer ein paar rechtspopulistische Politiker. Es ist vielmehr ein Service für nachfolgende Generationen, sie sollen die letzten Reste der Gletscher noch zu sehen bekommen. Es soll ein »Museum der Gletscher« werden. Das ist eine Idee, die vom isländischen Künstler Ólafur Elíasson inspiriert ist. Elíasson dokumentierte die Gletscher auf Island in allen Ausformungen, die das Eis ausbildete. Solche Details wollen sie gar nicht, sie wollen einfach eine schöne Totale.
Doch wer weiß, vielleicht kehrt sich die Geschichte schneller wieder um als erwartet, und es ist wie damals, als 1815 der Vulkan Tambora in Indonesien ausbrach. Das darauffolgende Jahr war das Jahr ohne Sommer. Wegen der Ernteausfälle brach eine Hungersnot aus, aber die Kälte hatte auch noch andere Auswirkungen: Die Gletscher stießen vor. Damals setzte ein erster Tourismusboom im Hochgebirge ein, alle wollten die Gletscher in ihrer vollen Pracht sehen. Lord Byron bezeichnete den Gletscher als einen erhabenen Ort ewiger Stille und kristalliner Reinheit.
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