Was war geschehen? Was hatte den Hausmeister zu der Gewährung einer Galgenfrist von einer Stunde bewogen? Hatte ihn ein Hauch der neuen Zeit angeblasen?
Ich komme jedenfalls seit damals erst um – halb elf Uhr nach Hause. Die Mietsparteien stehen in langen Ketten vor dem Hause. Ein Wachmann sieht auf Ordnung in den Reihen der Angestellten. Punkt zehn Uhr beginnt der Einlaß. Denn seit die Haustorsperre für zehn Uhr festgesetzt ist, sperrt mein Hausmeister, immer noch der Zeit voranfliegend und seine eben erwähnte Devise beibehaltend, erst um – neun Uhr …
Josephus
Der Neue Tag, 15.6.1919
Nein, sie stammen wahrlich nicht aus der Zeit der Revolutionen. Sie sind nicht Anzeichen eines aufgeregten, sondern im Gegenteil: eines gemütlichen Wien. Sie sind nicht Zweck und Ziel einer Strömung, sondern Grund und Ursache einer Untugend. Aber was auch beim Anblick dieser Barrikaden so empört, ist eben der Umstand, daß sie der Ausdruck jener Zwecklosigkeit sind, die die Existenz des Winters ausmacht und die, aufgeweicht in einem Viertelliter Heurigen, als sogenannte »Gemütlichkeit« von Volkssängern und Feuilletonisten wiedergekäut und ausgespuckt wird. Ist eben jene Schlamperei, die nicht der Fehler der alten österreichisch-ungarischen Monarchie war, sondern die Tugend dieses unseres Deutschösterreich, daß diese seine Tugend allen Teilstaaten aufoktroyiert. Und wenn auch tausendmal erklärt wird: Deutschösterreich sei ein funkelnagelneuer Staat, der mit dem alten Reiche nichts zu tun habe, so verweise ich dringend und unerbittlich auf jene uralte Bretterverschalung des neuen Boltzmann-Instituts in der Währingerstraße, auf jene Bretterverzierung, die jedem Einsichtigen beweisen muß, daß wir zwar ein funkelnagelneuer Staat geworden, aber mit alten k.k. Brettern jämmerlich geflickt sind.
Wozu steht dieses Brettergerüst immer noch da? In der Nacht verrichteten Hunde und Heurigenmenschen dort ihre Notdurft, und am Vormittag klebt man dort Plakate auf mit der Ankündigung von Linkstänzen um Blaufüchse und Rechtstänze um goldene Kälber. Wäre es nicht vernünftiger, das letztere in der Stille einer Sommernacht und das erstere im Sonnenglanz des Tages zu erledigen? …
Plötzlich tauchten sie auf, zwei Gestalten in der Kärtnerstraße, Robinsons oder so was, mitten zwischen Bügelfalten, Crêpe de Chine – Kleidchen, Lackstiefeletten und Telepathen: zwei Gestalten, robust, schwer, schmutzig und antediluvial. Bei näherem Zusehen entpuppen sie sich als zwei Heimkehrer. Sie waren aus Irkutsk oder sonst einer Gegend, wo nicht mehr der schwarze, sondern der rote Pfeffer wächst, im Sommer vergangenen Jahres aufgebrochen und hatten das zweifelhafte Glück gehabt, im Jahre des Herrn 1919 in ihre Heimatstadt Wien, die Stadt ihrer Träume, zu gelangen. Auf ihren zerfetzten Stiefeln lagerte der Staub von drei langen, total zerwanderten Jahren, und ihre braungebrannten Körper staken in Säcken von einer undefinierbaren Färbung, die sehr entfernt an Gelbweiß erinnerte, aber ebenso gut auch sandige Erde hätte sein können. Sie schritten mächtig aus, sie suchten das Kommando, bei dem sie sich zu melden hätten. Sie staunten nicht, sie wunderten sich nicht. Scheinbar war das mächtige Erleben spurlos an ihnen vorbeigegangen. Ich sprach mit ihnen. Es war ihnen gutgegangen in Rußland. Wozu sie heimgekehrt seien? – Weil man doch einmal zu Hause sein wolle. Wissen sie, in welches Haus sie heimgekehrt sind? Als sie auszogen, war die Zeit noch groß, da sie zurückkamen, ist sie neu. Aber jene haben wir so lang enden lassen, daß wir diese nicht alt werden lassen. Und so sind sie, die beiden Heimkehrer, heimgekehrt in einer Zeit, deren Neuheit darin besteht, daß sie mit Neuerungen mißlungener Experimente verunstaltet, heimgekehrt in eine Stadt, deren Straßenpflaster die Ehre haben, auf dem ebensogut Blut fließt wie auf den Feldern desselben Namens, heimgekehrt in ein Land, das nicht weiß, was anzufangen, weil es überall aufhört, heimgekehrt zu Menschen, die »Genosse« einander sagen und den Revolver in der Hosentasche tragen. Wozu sind diese beiden heimgekehrt? Sie wissen es ebensowenig wie den Grund, weshalb sie ausgezogen sind. –
Josephus
Der Neue Tag, 22.6.1919
Eine Kaffeehausterrasse und noch eine
An einem schönen Sommerabend hat ein Ringstraßencafé nächst der Oper zwei Terrassen:
In der ersten sitzen erwachsene Kriegsgewinner und schlürfen Eis und spielen Buki oder Tarock. Das ist die legale, anerkannte gesetzlich geschützte Terrasse. Eine Terrasse mit gesellschaftsfähigen und bügelfaltengezierten Besuchern.
Vor dieser Terrasse eine etwas elementarere, improvisierte: deren Besucher ohne Bügelfalten, noch nicht erwachsene Kriegsgewinner, sitzen nicht auf Korbstühlen, sondern teils auf dem Pflaster, teils auf dem sehr schwindsüchtigen Rasen im Schatten eines Ringstraßenbaumes.
Und spielen Tarock.
Es sind Kolporteure der öffentlichen Meinung, und es scheint mir notwendig, diese auf das Vergnügen ihrer Verkäufer aufmerksam machen zu müssen.
Denn die Öffentlichkeit flaniert achtlos an den zigarettenrauchenden tarockierenden Knaben vorbei, und nur, wenn sie im Auto sitzt, läßt sie ein Hupensignal vernehmen oder weicht dem spielenden Rudel halbwüchsiger Kolporteure aus. Man darf die Kleinen in ihrem Vergnügen nicht stören. Es ist ja sozusagen das Jahrhundert des Kindes.
Ein Wachmann steht in der Nähe und wartet aus Berufsgründen auf eine Gelegenheit, einschreiten zu können. Da heute ausnahmsweise nicht eine einzige Kriegswitwe einen Demonstrationszug über den Ring veranstaltet, läßt der Wachmann die Kriegswaisen ungeschoren. Vielleicht auch, weil er meint, das sei der Anfang der angekündigten Schulreformen: Um den Tüchtigen unter den Knaben freie Bahn zu schaffen, läßt man sie vorläufig, in den Ferien, die Fahrbahn der Ringstraße besetzen. Der Aufstieg der Begabten beginnt damit, daß diese vorderhand auf dem Pflaster sitzen bleiben. Wer die Partie gewinnt, hat seine Begabung erwiesen und darf aufsteigen.
Wie soll man das nennen? Im Zentrum einer Kulturstadt, auf der Straße tarockierende Knaben: eine »Kulturschande«?
Nun: Schande hätten wir seit eh und je genug gehabt!
Aber – das erstere?…
Josephus
Der Neue Tag, 10.8.1919
Das war schon in der Monarchie ein Unterschied:
Im Dienst konnte man z. B. ein Auge zudrücken. Außer Dienst durfte man sogar beide offenhalten.
Im Dienst sagte man: Sie und Schweinehund. Außer Dienst war man selbst einer und per du.
In der Republik gibt es auch: in und außer Dienst. Sowohl punkto: Schweinehund als auch punkto: Auge zudrücken. Böse Zungen sagen, in der Republik würde man sogar beide Augen zudrücken. Aber sicher ist nur, daß wenige beide offenhalten …
Dennoch hielt ein Arbeiterrat auf der Westbahn beide Augen, während er die Reisenden revidierte, offen, und zwar in dem Übermaß, daß ein anderer Arbeiterrat, der außer Dienst war und im Vertrauen auf seinen Titel Butter hereinbringen wollte, von dem ersteren angehalten wurde. Zwischen beiden entspann sich folgender Dialog:
»Sö, dös geht net.«
»Oba, was willst?«
»Nix du, jetz’n bin i im Dienst.«
»Wannst mir d’Butter wegnimmst, kriagst deine fünf Kilo bei der Mutter net mehr!«
»Na, dann geh zua!«
Es hatte sich herausgestellt, daß der schmuggelnde Arbeiter eine Greißlerin zur Mutter hatte, die dem revidierenden Arbeiterrat fünf Kilo Butter in regelmäßigen Zeiträumen so hintenherum abzugeben pflegte. Ein böser Zufall fügte es, daß just dieser Arbeiterrat jene Butter konfiszieren sollte, die ihm selbst hätte zugute kommen sollen. Seine eigene Strenge strafte ihn. Sein Ich in Dienst nahm Stellung gegen sein Ich außer Dienst. Der tragische Konflikt war gegeben. Die Katastrophe unterblieb, weil der Anlass aus Butter bestand. Denn mit der Butter ist das so eine heikle Sache: Man darf sie nicht im Rucksack führen, man muß sie aber doch haben – außer Dienst. Man soll sie konfiszieren – im Dienst. Man darf sie nicht fünfkiloweis bei einer Greißlerin beziehen. Man soll sie ihrem Sohn aber wegnehmen. Denn dieser führte sie im Rucksack. Sie wäre ihm wirklich abgenommen worden, wenn jener sie nicht – am Kopf gehabt hätte. –
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