Wie gesagt, ich unterstütze keine Partei und stehe keiner Partei nahe, aber dieses Beispiel macht deutlich, wie in den deutschen Medien ein Formfehler mal okay ist und mal ein Skandal.
Nun könnten die Oppositionellen in Moskau, so wie in Sachsen auch, zum Gericht laufen und die Entscheidung anfechten. Tun sie aber nicht. Stattdessen riefen sie zu Protesten auf.
Und wie reagiert der böse russische Staat? Er lässt die Demonstration zu. Nur eben nicht dort, wo die Organisatoren es wollten.
Moskau ist eine Zwölfmillionen-Metropole mit Staus wie in New York. Die Demonstranten wollten auf dem Gartenring demonstrieren, einem innerstädtischen Autobahnring rund um das Moskauer Stadtzentrum. Er ist zwölfspurig und eine der wesentlichen Verkehrsadern der Innenstadt. Ihn zu blockieren, würde zum Verkehrsinfarkt führen.
Daher schlugen die Behörden eine andere wichtige Hauptstraße im Moskauer Zentrum für die Demo vor. Aber das lehnten die Organisatoren ab. Der Grund ist einfach: Es finden in Russland immer wieder genehmigte Demonstrationen gegen die Regierung statt, nur sind diese für die westlichen Medien uninteressant, weil es dabei zu keinen kamerawirksamen Zwischenfällen kommt. Daher wird selbst über große Demonstrationen in Moskau in den westlichen Medien nicht berichtet. Dass die Opposition in Moskau ungestört demonstrieren kann, würde die Legende vom Unterdrückungsstaat Russland beschädigen. Das muss der Zuschauer der Tagesschau also auch nicht erfahren.
Statt also am genehmigten Ort zu demonstrieren, versammelten sich die Demonstranten am 3. August an verschiedenen Orten und versuchten, zum Gartenring durchzukommen, um sich dort zu vereinen.
Warum haben die Demonstranten im Unterdrückungsstaat Russland keine Angst, zu einer nicht genehmigten Demonstration zu gehen?
Der Grund liegt — das wird viele überraschen — im liberalen Versammlungsrecht Russlands. Während in Deutschland Verstöße gegen das Versammlungsrecht Straftaten sind und mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden können, sind das in Russland nur Ordnungswidrigkeiten — also wie Falschparken.
Wer bei so einer nicht genehmigten Demonstration festgenommen wird, der wird nur zur Feststellung der Personalien auf die Wache gebracht und ist nach ein paar Stunden mit einem Bußgeldbescheid wieder auf dem Weg nach Hause. Erst im Wiederholungsfall drohen bis zu 30 Tage Ordnungshaft. Auch das ist aber keine Straftat und gilt nicht als Vorstrafe. Es bleibt eine Ordnungswidrigkeit. Wer es sich also leisten kann, mal 30 Tage lang nicht erreichbar zu sein, hat auf einer nicht genehmigten Demonstration in Russland nichts zu befürchten und kann immer wieder gegen das Versammlungsrecht verstoßen, zum Beispiel als Student in den Semesterferien.
Oder auch als „Oppositionspolitiker“, der diese Festnahmen medial ausschlachten kann.
Das zeigen auch Fotos von Demonstranten, die von der Polizei am 3. August abgeführt wurden. Sie scheinen das Ganze recht lustig zu finden. Solange man keinen Widerstand gegen die Staatsgewalt leistet, kann einem nichts passieren.
Übrigens ist das auch die Masche von Alexei Navalny. Der ruft immer an Feiertagen zu Demonstrationen auf, und zwar an Orten, an denen Volksfeste stattfinden. Das wird natürlich abgelehnt, und die von der Stadt angebotenen alternativen Standorte lehnt er ab. So wird er immer an russischen Feiertagen kamerawirksam festgenommen, sitzt danach 14 bis 30 Tage Ordnungshaft ab, und das Spiel beginnt von vorne. Aber dieses Vorgehen garantiert ihm ständige Aufmerksamkeit in den westlichen Nachrichten.
Was in Deutschland ebenfalls nicht berichtet wurde, ist, dass bei den Demonstrationen in Moskau circa die Hälfte derer, die vorübergehend in Gewahrsam kamen, gar nicht in Moskau leben. Man fragt sich also, warum Leute, die von der regionalen Wahl nicht betroffen sind, dort hinreisen, um zu demonstrieren.
Um das zu verstehen, muss man nur die deutschen Medien aufmerksam lesen. Im Zusammenhang mit den Demonstrationen war immer wieder die Rede von der „Bürgerrechtsorganisation OVD“. Klingt gut, oder? Diese Organisation meldet den deutschen Medien die Zahlen der Festgenommenen, die regelmäßig höher sind als die Zahlen der Polizei.
Das Problem dabei: Die OVD ist keine russische „Bürgerrechtsorganisation“, sondern ein vom Westen finanziertes Propagandainstrument.
Und das ist keine russische Propaganda, wie die Organisation sich selbst auf ihrer Webseite darstellt.21 Nach ihren eigenen Angaben wird die OVD von der EU-Kommission, der Heinrich-Böll-Stiftung und der französischen Botschaft in Moskau finanziert. Und mit Bedauern stellt die OVD auf ihrer Seite auch fest, dass das National Endowment for Democracy und die Open Society Foundation von George Soros in Russland nicht mehr tätig sein dürfen, denn diese hätten die OVD früher finanziell unterstützt.
Diese Feinheiten werden dem Leser der westlichen Medien jedoch vorenthalten. Und wer sich mit dem Maidan und ähnlichen Farbrevolutionen beschäftigt hat, erkennt an der Liste der Sponsoren der OVD das Who‘s who der Farbrevolution-Unterstützer. Auch damals haben diese dafür gesorgt, dass reichlich Demonstranten aus dem Land zum Beispiel zum Maidan kamen, so wie wir nun auch viele Auswärtige bei den Moskauer Demonstrationen sehen. Nach den Erfahrungen der Orange Revolution, dem Maidan oder auch der Rosenrevolution in Georgien hat Russland allen Grund, schnell durchzugreifen. Wie wir sehen: nicht hart durchzugreifen, sondern einfach nur schnell und konsequent.
Denn im Gegensatz zu den Demonstrationen der Gelbwesten in Frankreich, wo die Polizei Tränengas, Wasserwerfer und Gummigeschosse gegen die Demonstranten einsetzt, geht es in Russland friedlich zu. Die Polizisten führen die Leute ab, und selbst Gummiknüppel kommen praktisch nie zum Einsatz. Tränengas und Wasserwerfer haben die Demonstranten in Russland noch nie erlebt, von Gummigeschossen ganz zu schweigen.
Wie friedlich es in Moskau zuging, sieht man daran, dass der einzige, der nach der Demonstration eine Nacht im Krankenhaus verbringen musste, ein Polizist war, dem bei der Verhaftung eines Demonstranten die Schulter ausgerenkt worden war.
Ein weiteres Klischee über Russland ist, dass die Medien über solche Proteste nicht berichten. Das stimmt ebenfalls nicht, weil das russische Fernsehen ausführlich und landesweit berichtet hat. Das ist erstaunlich, denn im Grunde waren es kleine und unwichtige Demonstrationen, die es in den vergangenen Wochen in Moskau gegeben hat. In einer Stadt mit mehr als zwölf Millionen Einwohnern haben sich zwischen 1.000 und 4.000 Demonstranten eingefunden. Zum Vergleich: Berlin hat vier Millionen Einwohner, das wäre entsprechend so, als wenn sich in Berlin circa 300 bis 1.300 Demonstranten versammeln.
Wäre das ein Bericht in bundesweiten Nachrichtensendungen wert? Oder würden die Medien gar von einem „Massenprotest“ gegen Merkel sprechen? Wohl kaum! Aber die deutschen Medien bauschen die Proteste in Moskau zu Massenprotesten gegen Putin auf. Dabei geht es nicht einmal um Putin, sondern um eine Regionalwahl.
Aber das russische Fernsehen berichtet trotzdem ausführlich. Einen Bericht über die Demonstration vom 3. August habe ich übersetzt.22 Wie man sieht, waren viele Demonstranten bewaffnet, das passt so gar nicht ins Bild der „friedlichen Demonstranten“, das die deutschen Medien zeichnen wollen. Die Tagesschau traute sich deshalb auch nicht, von unbewaffneten Demonstranten zu sprechen. In ihrem Bericht hieß es sinngemäß, sie hätten keine bewaffneten Demonstranten gesehen — das klingt nach der Methode der drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. So kann man sich immer herausreden.
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