»Es muss die Zeit gewesen sein, in der Sie zu uns ausgewandert sind«, stellte Edward fest.
»Exakt!« Maximilian nickte gedankenverloren, was sein Gegenüber natürlich nicht bemerken konnte.
»Aber das ist eine andere Geschichte. Kurzum, mir blieben die bewaffneten Konflikte in den darauffolgenden Jahren glücklicherweise erspart. Krieg und Terror nicht nur um Macht und Bodenschätze, sondern auch um Trinkwasser und Ackerflächen. Die weltweit immer häufiger auftretenden Unfälle in maroden oder fehlerhaft konstruierten Reaktoranlagen verkamen dabei zur Randnotiz. Dazu noch Migrationsbewegungen, gegenüber denen die sogenannte ›Große Völkerwanderung‹ des Altertums ein Abendspaziergang gewesen sein muss. Zu dieser Thematik existiert eine interessante Studie, die ich Ihnen für Ihr Haptik-Pad mitgebracht habe.«
Maximilian griff in sein Jackett, zuerst in die linke, danach in die rechte Innentasche. Schließlich nahm er seine Aktenmappe und durchsuchte diese – ebenfalls ohne Resultat.
»Ich werde vergesslich«, stellte er resigniert fest. »Amado, könnten Sie bitte in der Lobby nachschauen, ob ich meine Datenscheibe dort liegengelassen habe? Vielleicht ist sie auch bei der Fundstelle abgegeben worden.«
»Selbstverständlich, Sir.«
Nachdem Amado mit gemessenen Schlurfschritten den Raum verlassen hatte, rückte Maximilian seinen Sessel näher an den Salontisch heran.
»Wir haben nicht viel Zeit«, stellte er leise fest und ignorierte den irritierten Gesichtsausdruck des Präsidenten.
»Ich hatte bereits erwähnt, dass mein Rat bitter sein wird. Einem am Ende des 20. Jahrhunderts aktiven Journalisten wird der Satz zugeschrieben: ›Wer halb Kalkutta aufnimmt, rettet nicht Kalkutta, sondern wird selbst zu Kalkutta.‹«
Er seufzte.
»Die Aufnahme der Flüchtlinge wird unsere eigene Existenz gefährden, diese wahrscheinlich sogar vernichten. Über die faktische Unmöglichkeit von Unterbringung und Versorgung hinaus würden sich soziale und kulturelle Probleme ergeben. Die Enge unserer Städte – der durchschnittliche Wohnraum pro Person beträgt knapp zwölf Quadratmeter – stimulierte ein Zusammenleben auf der Basis echter gegenseitiger Rücksichtnahme. Auch die Ressourcenknappheit hat uns zu einem bewussten Umgang mit sämtlichen Gütern erzogen. Eine ›Wegwerfgesellschaft‹ – so wird die ungeregelte Konsumorientierung auf der Erde genannt – ist den Menschen hier erfreulicherweise völlig fremd, ebenso wie ein rein egoistisches Karriere- und Besitzstreben. Nicht zu vergessen die Durchsetzung einer von allen Mitgliedern der Gesellschaft akzeptierten Geburtenkontrolle. Ich würde sogar so weit gehen, dass sich die ›Lunarianer‹ durch die nun mehrere Jahrzehnte umfassende Trennung im Vergleich zu den ›Terranern‹ auf einer höheren soziokulturellen Entwicklungsstufe befinden: auf der des Homo sapiens lunaris. Wir wären gesellschaftlich inkompatibel. Schon allein aus diesem Grund verbietet sich eine Aufnahme. Es …«
»Aber«, unterbrach Edward, »wir können sie doch nicht zurückschicken. Sie würden hilflos durchs All treiben und elendig verrecken. Außerdem werden bald die nächsten Transporter starten.«
»Die Menschen auf der Erde müssen die von ihnen verursachten Probleme selbst lösen. Ein Exodus zum Mond darf keine Option sein. Hierfür ist ein eindeutiges und unmissverständliches Signal notwendig.«
Maximilian machte eine kurze Pause, bevor er noch leiser weitersprach.
»Schießt den ersten Transporter ab!«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein, Max.«
Edward war aufgestanden und ruderte wie ein Ertrinkender mit den Armen. Das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Was ist mit den Flüchtlingen, den Menschen an Bord? Mit den Frauen und Kindern?«
»Denken Sie bitte nach, Edward«, antwortete der Gefragte in einem ebenso kalten wie sachlichen Ton. »Glauben Sie wirklich, dass man uns Frauen und Kinder schickt? Normale Bürger? Oder gar Alte und Kranke? Was meinen Sie, wer in den Transportern sitzen wird?«
Montag, 24. September 2136, 23:55 Uhr (MSZ): Lunaria – Taktische Sektion des Kontrollzentrums
Die Taktische Sektion vermittelte entgegen der Bezeichnung einen eher unspektakulären Eindruck. Es handelte sich um einen fensterlosen Raum, welcher mit zwei großen und mehreren kleinen Bildschirmen sowie einer die Rückwand vollständig einnehmenden Steuerkonsole ausgestattet war. Im Krisenfall bot der Raum dem Präsidenten und den beiden Vorsitzenden des Lenkungsrats sowie vier weiteren für die Bedienung der Defensivsysteme verantwortlichen Personen Platz. Im Moment war neben dem Präsidenten jedoch nur der diensthabende Offizier anwesend.
Das Treffen mit Maximilian hatte Edward mehr zu denken gegeben als jede andere zuvor in seinem Leben geführte Unterhaltung. Wenige Stunden später hatte er den Kontakt zum Lenkungsrat gesucht, sich mit dessen Meinungsführern besprochen, zahlreiche, zumeist kontroverse Diskussionen mit Einzelpersonen und in Kleingruppen geführt, hatte zugehört, argumentiert und versucht, zu vermitteln. Der vermeintlichen Aussichtslosigkeit der Lage setzte er seine unerschütterliche Zuversicht entgegen. Er wollte zeigen, dass die Mondgemeinschaft auch diese Krise gemeinsam meistern würde. Tief in ihm sah es jedoch anders aus. Seine Zweifel, den Lenkungsrat einen zu können, wucherten wie ein bösartiges Geschwür.
Schließlich erfuhr er eine Niederlage, die ebenso bitter war wie Maximilians Rat: Es ließ sich nicht einmal ein Grundkonsens finden. Es war daher an ihm – und nur an ihm – eine einsame Entscheidung zu treffen. Diese hatte ihn heute ins Kontrollzentrum geführt. Mithilfe von Maximilian und dessen Netzwerk war es gelungen, einen vertrauenswürdigen Mitstreiter innerhalb des Zivilschutzes zu finden und ihn in die heutige Dunkelschicht zu versetzen. Der Mann hatte auf der Erde unsagbar Schlimmes erfahren und dabei Frau und Kind verloren. Er war bereit, die fürchterlichste aller Entscheidungen mitzutragen.
Doch durfte ein Präsident überhaupt ohne demokratisches Mandat handeln? Konnte er einfach festlegen, was richtig war? Wer war er, dass er es wagte, sich anzumaßen, eine derartig tiefgreifende Entscheidung für die gesamte Mondgemeinschaft zu treffen? Edward King wurde sich erneut seiner Namensgeber bewusst. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass es sich einerseits um einen der größten mittelalterlichen Monarchen, andererseits um den führenden Bürgerrechtler des 20. Jahrhunderts handelte …
Das Piepen der Kontrollinstrumente im Raum erinnerte ihn an die Elektrokardiogramme der Krankenstation. In ihm formte sich die Vorstellung einer dahinsiechenden Erde, deren imaginärer Pulsschlag zunehmend langsamer und schwächer wurde. Würde der Patient überleben? Er dachte an bewaffnete Konflikte, an Hunger und Vertreibung. Er dachte an die zunehmende Luft- und Wasserverschmutzung, die Reaktorunfälle und die Auswirkungen der globalen Klimaveränderung. Und er dachte an das ungebremste Bevölkerungswachstum. Wie kein anderes Problem machte es die wohl unvereinbare Distanz zwischen Mond- und Erdendenken deutlich: Hier waren Geburtenkontrollen selbst für religiöse Mitglieder der Gesellschaft kein Tabu.
Als Präsident musste er der Verantwortung gerecht werden und diese MikroGesellschaft von knapp 200.000 Individuen schützen. Zum ersten Mal empfand er seine Blindheit als Segen: Er würde das von Laserstrahlen durchtrennte Transportschiff und die durchs All schwebenden Leichen nicht sehen müssen. Ebenso wie Justitia sollte ihm die Konsequenz seiner Entscheidung verborgen bleiben.
Er hatte eine kurze Erklärung vorbereitet. Zum Beginn der kommenden Hellphase würde er sie verlesen, vom Präsidentenamt zurücktreten und sich der Justiz stellen. Sein eigenes Schicksal war unbedeutend. Zusammen mit Maximilian teilte er die Hoffnung, dass sein Handeln langfristig dem Überleben der Menschheit diente. Zwar war der Zeitpunkt, die Erde als dauerhafte Lebensgrundlage zu erhalten, wahrscheinlich seit mehr als hundert Jahren überschritten. Vielleicht würde in ein paar Jahrtausenden – falls sich das planetare Ökosystem nach dem Verschwinden des Menschen regenerieren sollte – der Mond die Keimzelle für neues irdisches Leben sein. Der Homo sapiens lunaris könnte dann auf den Trümmern der alten Zivilisation das Fundament einer tatsächlich humanen Gesellschaftsordnung legen.
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