»Genauso war es!«, bestätigte der Alte. »Mit ihrem Lärm und ihren Maschinen, die sich tief in die Erde bohrten, müssen sie etwas aus dem Schlaf gerissen haben, etwas sehr Mächtiges. Und sehr Zorniges. Jedenfalls begann der Drache, der tief unter dem ›Gelben Stein‹ schlief, zu rumoren, warf seinen Kopf hoch und peitschte derart mit seinem Schwanz, dass er die gesamte Decke seiner Schlafkammer absprengte. Tausende Tonnen glühende Magma und Gestein wurden hoch in die Luft katapultiert, sodass dort, wo der Drache geschlafen hatte, eine Caldera, eine riesige Mulde, entstand.«
Großvater unterbrach sich, hob einen Kiesel und verscheuchte mit einem gezielten Wurf eine Ratte, die quiekend in ihrem Loch verschwand.
»Und als der Drache sich umdrehte, um sich ein neues Lager zu bereiten, erschütterten Erdbeben das ganze Land. Das weckte seine Kumpane unter den anderen Vulkanen. Und auch die Seedrachen, die unter dem Meeresboden schliefen, wurden durch den Aufruhr wach und brachten das Meer zum Kochen. Überall wankte die Erde, als die Drachen sich aufbäumten, giftigen Schwefel spuckten und mit ihrem Feueratem alles verbrannten, was brennbar war. Nur wenige Menschen überlebten dieses Inferno.«
Die Kinder lauschten mit angehaltenem Atem. Der Alte erzählte so anschaulich, als habe er das, was er ihnen beschrieb, mit eigenen Augen gesehen.
»Und dann stiegen Schwefel und Asche bis in die Atmosphäre empor und zogen um die ganze Welt. Die Sonne war nur noch ein schwach glimmender Ball ohne Kraft. Über der Erde wurde der Himmel immer dunkler.«
Seine Stimme wurde leiser.
»Und so hüllte die Kälte die ganze Welt mit ihren wenigen Überlebenden in ein eisiges Tuch ein und ließ das, was einmal ›Zivilisation‹ genannt worden war, Stück um Stück erfrieren …«
Er verstummte, und auch die Kinder schwiegen. Draußen heulte ein Wolf, und in der Ferne antwortete ihm sein Rudel. In kaum einer Stunde würde der Mond aufgehen, und dann würde sich niemand mehr weiter ins Freie trauen als bis zum Fluss.
Großvaters Blick wanderte den Pfeiler bis zur hoch über ihnen schwebenden Decke der Ruine hinauf. Sie bot der kleinen Gruppe ein wenig Schutz vor den eisigen Winden und den wilden Tieren, die gegen Ende des Winters besonders zudringlich wurden.
»Sieh’ mal, der Stein blüht!«, flüsterte das kleine Mädchen neben ihm plötzlich und wies auf den Pfeiler.
Die letzten Strahlen der Abendsonne, die durch die Reste eines Buntglasfensters fielen, tauchten die Reifkristalle in farbiges Licht, sodass hoch oben an der Säule ein Kaleidoskop roter, blauer und grüner Blüten zu tanzen schien. Einen Moment später verschwand die Sonne endgültig hinter den Hügeln, und so plötzlich, wie er gekommen war, war der Spuk auch wieder vorbei. Die Nacht war hereingebrochen, und der Pfeiler nahm wieder seine alte anthrazitgraue Färbung an.
Ein heller Klang ertönte. Eine der Frauen hatte mit dem eisernen Löffel gegen den Topf geschlagen, und alle Kinder sprangen auf. Nur der Junge mit dem schwarzen Schopf sah noch immer empor und wies auf das Funkeln am nächtlichen Himmel, das sich über ihnen auszubreiten begann.
»Stimmt es, dass die Menschen, als du jung warst, zu den Sternen fliegen wollten, Großvater?«
Der schüttelte leise den Kopf.
»Ich war niemals wirklich jung, mein Sohn … Aber ja, damals, vor dem Großen Sterben, standen die Menschen kurz davor, den Himmel zu erobern und Kolonien auf fernen Planeten zu gründen.«
»Und werden wir jemals dorthin kommen? Zu den Sternen, meine ich?«
Seine Stimme, jung und ein wenig spröde, war voller Sehnsucht.
»Ich weiß es nicht, kleiner Wolf …«
Er gab ihm einen freundschaftlichen Klaps.
»Und nun beeil’ dich, sonst ist der Topf leer!«
Erschrocken fuhr der Junge hoch und eilte den anderen nach.
»Das, was einmal Zivilisation war …« Mit dem Finger zog der Alte die Buchstaben am Grunde des Pfeilers nach, an dem er lehnte: CCAA – Colonia Claudia Ara Agrippinensium. Noch immer strahlten die Überreste des Gebäudes eine gewisse Würde aus, auch wenn sich niemand mehr daran erinnerte, dass dies einst ein Ort der Anbetung gewesen war …
Er beugte sich vor, um die Glut zu schüren und ein paar Scheite nachzulegen, wobei seine Gelenke ein wenig knirschten. Nun ja, der Zahn der Zeit nagte eben auch an den besten Graphenlegierungen. Schließlich hatte er inzwischen an die 250 Jahre auf dem Buckel und war wohl der Letzte seiner Art. Aber sein Memory-Speicher funktionierte noch immer tadellos, und so lange es diese seltsame Spezies gab, die ihn einst als KI-2030 aktiviert hatte, würde er ihr als Gedächtnis dienen. Eine Spezies, die, auf ein Häuflein zusammengeschrumpft, verlaust und halb verhungert, noch immer von den Sternen träumte …
von Heidrun Jänchen
1
Es war ein heißer Sommer, der heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, und es hatte zwei Monate lang nicht geregnet. Die Linden im Stadtpark warfen Ende Juli ihre Blätter ab. Man konnte den Fluss zu Fuß durchqueren, ohne nasse Knie zu bekommen.
2
Anna und John – die Europäer hatten nicht nur die Folgen ihres Wirtschaftssystems, sondern auch ihre Namen auf Tokelau hinterlassen – bauten ein Haus. Sie bauten es nicht wie die anderen im Dorf, sondern auf drei Meter hohen Stelzen. Als der Boden sumpfig wurde und die Pflanzen verrotteten, stank es, aber ihr Haus stand noch, und das Meer war noch da, das ihre Vorfahren seit Jahrhunderten, vielleicht auch seit Jahrtausenden ernährt hatte.
Einige der Korallen sahen komisch aus, und manchmal trieben tote Fische auf dem Wasser, doch man konnte überleben. Anna und John wollten nicht wie die anderen Bewohner des Atolls umziehen. Es gab ein neues Dorf in den Bergen. Sie hatten immer am Wasser gelebt und konnten mit Bergen nichts anfangen, die überall den Himmel verstellten. Ringsum verschwanden immer mehr Häuser im Ozean. Die Straße lag schon lange unter Wasser, aber sie hatten ein Boot. Und sie hatten einander. Sie überlebten.
Bis eines Tages die Balken unter der Hütte nachgaben.
3
Die Straßen waren voll mit Plakaten und Fahnen. Unter den Platanen am Eichplatz saß ein Dutzend junger Leute. Sie trugen blaue Kleidung und manche hatten blaue Fahnen mit goldenen Sternen um die Schultern geschlungen. Hinter dem Fuchsturm ging die Sonne auf.
»Das war’s«, sagte Pilar.
»Weißt du schon, was mit deiner Einbürgerung wird?«, fragte ein Mann mit langen blonden Haaren und einem Backenbart.
»Wenn ich mich als Altenpflegerin ausbilden lasse, haben sie gesagt, bekomme ich eine Duldung für zwei Jahre.«
Pilar war Chemikerin, aber seit der Zerschlagung des Monaven-Konzerns steckte die gesamte Branche in der Krise.
»Ich kann das nicht – Menschen beim Sterben zusehen.«
Vom Markt her hörte man die Party der Antieuropäer. Sie spielten »Rosamunde« und »Es saßen die alten Germanen« und das Lied vom eisgekühlten Bommerlunder.
»Die NoVoP hat angekündigt, sofort nach der Abstimmung Grenzkontrollen an allen Außengrenzen einzuführen«, sagte eine Frau mit blauem Blumenmuster auf dem kahl geschorenen Schädel.
»Wir wissen das, Lina. Wir haben das wochenlang jedem erzählt, der es nicht hören wollte.«
»Aber Grenzkontrollen! Das ist ein Rückfall ins Mittelalter.«
Keiner widersprach ihr, obwohl das zwanzigste Jahrhundert um einiges später stattgefunden hatte. Es gab alte Leute, die sich an Grenzen erinnerten und an Zeiten, in denen ein Dreipfundbrot dreiundsechzig Pfennige kostete. Oder waren das Groschen?
Es war die Angst gewesen, die einundsechzig Prozent der Deutschen dazu gebracht hatte, für einen Austritt aus der EU zu stimmen – die Angst vor den Griechen, Italienern und Spaniern, die wegen Missernten und Dürre über die Pyrenäen und die Alpen kamen wie ehedem Alexander der Große. Deutschland förderte den Aufbau von Zitrus- und Olivenplantagen, und die Südländer kannten sich damit aus.
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