Tatsächlich dachte ich, dieses Kapitel aus meinem Leben wäre damit abgeschlossen. Ich hatte alles verdrängt, was mit Gefühlen der Einsamkeit, dem Ablehnen und Ausschluss von anderen Menschen zu tun hatte. Nachdem ich mich bewusst daran erinnerte, sah ich Nick. Wir fuhren oft mit mehreren über eine Brücke zur Schule. Manchmal machten wir einen Wettkampf daraus. Die meiste Zeit beachtete ich ihn allerdings nicht, sondern unterhielt mich mit seiner älteren Schwester, während Nick mich beobachtete. Instinktiv wich ich seinem Blick aus. Was wäre wohl passiert, wenn ich ihm in die Augen geschaut hätte? Diese Frage ließ mich nun nicht mehr los. Hätten wir beide uns erkannt, geheiratet und Kinder bekommen? Oder wären wir vielleicht gar nicht füreinander bereit gewesen? Die Vergangenheit hatte mich eingeholt. Nun stand ich auf einmal schüchtern vor ihm und schaute zu ihm auf. Nick ist mittlerweile zwei Köpfe größer als ich. Von dem kleinen Jungen von damals ist nichts mehr übriggeblieben. Während des Wiedersehens in meinem Reisebüro erzählte mir Nick, dass er als IT-Manager arbeiten würde. Auf Facebook stellte ich den dauerhaften Kontakt zu ihm her und fragte, ob er nicht in Zukunft öfter eine Reise über mich buchen wollte. Eine Woche später antwortete er mir und schrieb, dass er sich über meine Nachricht gefreut hätte. Das Glücksgefühl in den folgenden Tagen war wie ein Rausch. Die Zeit blieb stehen. Ich hätte vor Glück abheben und durch den Raum schweben können. Träumend lief ich durch den Wald und stellte mir eine schöne Zukunft mit Nick vor, in der wir auf rosa Wolken schwebten. So stellte ich mir vor, wie wir uns küssten, uns in den Arm nahmen und zusammen durch die Welt reisten. Die rosarote Brille vor meinen Augen sollte jedoch schon kurze Zeit später in tausend Einzelteile zerbrechen. Unsere Begegnung wurde eine noch schmerzhaftere Beziehungskiste als all die anderen zuvor. Manchmal kam mir in den Sinn, dass ich mit meiner Biografie nur auf diese eine Begegnung vorbereitet wurde. Nick war genau wie ich verheiratet und hatte einen Sohn. Dazu zeigte er öffentlich, was für ein verantwortungsvoller Vater er sei und wie sehr er seine Familie schätzte. Nick war zu diesem Zeitpunkt ein Mensch, der sich selbst einem hohen Erwartungsdruck aussetzte und in der Außenwelt gut angesehen werden wollte. In mir kam Verzweiflung auf und Traurigkeit, weil ich diesen Mann so sehr liebte, dass mein Herz schmerzte. Wir sahen uns in den folgenden Monaten sehr selten für wenige Minuten und hatten kaum Zeit, private Worte miteinander zu wechseln. Ich weinte viel, weil ich diese schreckliche Sehnsucht in meinem Herzen spürte. In diesen Momenten spürte ich ihn, als wäre er bei mir. Er legte von hinten seine starken Arme um mich, hielt mich fest und flüsterte in mein Ohr: „Alles wird gut. Gib nie die Hoffnung auf.“ Ein Gefühl zwischen Wahnsinn und Realität überkam mich: Ich spürte einen Mann, der nicht da war, hörte seine Stimme und vernahm auf der Gefühlsebene, dass auch er eine tiefe Liebe für mich empfand. Mein Körper nahm Dinge wahr, die eigentlich nicht sein konnten. Ich taumelte, verlor die Balance und schlug mit meinen Emotionen wie ein extremes Pendel aus. Die Intensität dieser Liebe ängstigte mich. Sogar Tausende Kilometer voneinander entfernt spürte ich Nick im Urlaub täglich in meinem Herzen. Das Gefühl war so intensiv, dass ich mir nicht sicher war, ob es schön oder schmerzhaft war. Am nördlichsten Punkt Europas stand ich am Hafen einer kleinen Insel und wartete mit meiner Familie auf unsere Fähre, während ich in den Sternenhimmel schaute, den vollen Mond bestaunte und Nick spürte. Ein paar Monate vergingen, dann fragte mich Marcel: „Was ist mit dir los? Du hast dich verändert. Ich erkenne dich kaum wieder.“ Auf seine Frage wollte ich ihm eine ehrliche Antwort geben: „Ich bin einem Mann begegnet. Wir haben uns in die Augen geschaut und plötzlich empfand ich diese tiefe Liebe. Ich glaube, dass es für mich an der Zeit ist, mich weiterzuentwickeln, aber ich weiß nicht, wie sehr es unsere Ehe belasten wird.“ Vielleicht war Marcel mit mir nicht glücklich? Marcel musste sich setzen. Damit hatte er nicht gerechnet. „Warum, Karla? Bist du mit mir nicht glücklich?“ Ich sah die Verzweiflung in seinen Augen und es tat mir in der Seele weh. Wir hatten uns versprochen, immer ehrlich zueinander zu sein. Die Wahrheit war das Einzige, was sich in diesem Moment richtig anfühlte, aber mir war auch bewusst, dass die Wahrheit Marcel sehr wehtun würde. Doch genau das war ich ihm schuldig – alles, was unausgesprochen blieb oder verheimlicht wurde, stand wie eine unsichtbare Wand zwischen uns. Das wollte ich nicht mehr. Der Kampf um unsere Ehe begann. Marcel hat von diesem Zeitpunkt an versucht, meine neue spirituelle Liebe zu verstehen und zu akzeptieren. Auch ihm ist eine Frau begegnet, die sich für ihn interessierte. Aber er hat sie nicht beachtet, weil er nicht ein einziges Mal an unserer Liebe gezweifelt hatte. Es hätte mich sicherlich auch wie ein Schlag getroffen und ich hätte ihm verletzt gesagt: „Geh, wenn du gehen willst.“ Aber er sagte diesen Satz nicht zu mir. Im Gegenteil. Marcel kämpfte um mich. Er schenkte mir auf einmal mehr Aufmerksamkeit, entführte mich an schöne Orte, brachte mir Blumen mit oder machte mir Komplimente. Ich genoss die Zweisamkeit mit ihm – es war die erste intensive Zeit als Paar, nachdem wir unsere Kinder bekommen hatten. Dann begann ich innerlich und äußerlich aufzuräumen . Dabei fand ich in meinem Zimmer einen alten Liebesbrief von Marcel, in dem er mir seine Gefühle gestand. Der letzte Satz brachte mich zum Weinen: „Liebe Karla, ich habe nur ein Herz zu verschenken. Bitte gib gut acht darauf!“ Ich hatte es ihm damals versprochen und wusste um den Schmerz, betrogen zu werden. Nie hätte ich ihm das angetan. Daraufhin habe ich krampfhaft versucht, wieder mehr in Gedanken bei ihm zu sein. Doch ich konnte nicht, so sehr ich es mir wünschte. Die Nähe zu Marcel ging mit jedem weiteren Tag verloren. All die Jahre mit ihm führte ich ein Leben, das nicht immer einfach war, aber definitiv nicht in eine Sackgasse führte. Natürlich hatten wir Höhen und Tiefen in unserer Ehe. Sie waren jedoch immer von äußeren Umständen abhängig, wie Krankheit oder finanziellen Sorgen. An unserer Liebe hatten wir beide nie gezweifelt. Vor allem hatten Marcel und ich mit den Kindern viele schöne Momente. Mir wurde jedoch bewusst, dass mir irgendetwas in meinem Leben fehlte. Meine Lebensfreude war gedrosselt. Ich fuhr mit angezogener Handbremse durchs Leben: im Job und auch in meiner Gefühlswelt. Bereits vor meiner Begegnung mit Nick wurde ich an manchen Tagen innerlich unruhig und aggressiv und ließ diese Ausbrüche an den Kindern oder an Marcel aus. Es tat mir jedes Mal leid. Ich mochte mich nicht, wenn ich so war. Nun versuchte ich, meine Aggressivität zu ergründen. Viele Stunden wurde ich still und ließ unangenehme Gefühle hochkommen, ohne sie zu bewerten, bis mir klar wurde, dass es letztlich nur um mich ging und es nicht die Fehler meiner Familienmitglieder waren, die mich aggressiv machten.
Durch die Meditationen wurden meine Sinne so sehr geschärft, dass sich mein sechster Sinn wieder meldete. Ich ließ zu, dass Spiritualität endlich einen festen Platz in meinem Leben einnahm, weil es mein Leben bereicherte. Nun wusste ich die Vorteile für mich zu nutzen – nicht nur beim körperlichen Liebesspiel mit Marcel, sondern auch im Alltag. Durch das Deuten meiner Visionen war ich anderen oft einen Schritt voraus und konnte Schlimmeres verhindern. So sah ich auch Nick, wie er in Lebensgefahr schwebte. Er lag auf dem Boden und wurde von einem Notarzt wiederbelebt. Wochenlang sah ich diese Bilder immer wieder, wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs war oder während meiner Laufrunden. Beim Sport war mein sechster Sinn wie eine Antenne nach oben. Ich schrieb Nick daraufhin eine SMS, doch er antwortete nicht, weil er sie gar nicht bekam, wie sich später herausstellte. Wieder vergingen ein paar Wochen und auf einer Laufrunde schnürte plötzlich meine Kehle zu. Eine Schar von Raben schaute mich an und in mir kam schreckliche Angst auf. Ich rang nach Luft und sah wieder diese Bilder vor meinem inneren Auge. Nick lag am Boden. Er musste wiederbelebt werden. Die gleichen Bilder wie die Wochen zuvor. Der Gedanke, dass ich ihn nie wiedersehen würde und ihm nicht sagen könnte, was ich für ihn empfand, machte mich traurig und ließ mich fast verzweifeln. Also schrieb ich ihm dieses Mal eine Mail, in der ich ihm erklärte, was ich gesehen hatte. Es erforderte eine Menge Mut von mir, weil ich wusste, dass Nick mit Spiritualität nichts am Hut hatte. „Lieber Nick, wenn du diese Zeilen liest und dich bester Gesundheit erfreust, dann vergiss alles und freue dich einfach, dass sich eine verrückte Frau wie ich um dich sorgt …“ Ein paar Tage später antwortete er mir: „Liebe Karla, es tut mir leid, dass du dich so sehr um mich sorgen musstest. Ich bin nicht lebensgefährlich erkrankt, aber gut geht es mir auch nicht …“ Wir schrieben ein paar Mal hin und her und ich war etwas beruhigt. Im Nachhinein kam heraus, dass Nick seine gesundheitlichen Probleme lange Zeit verdrängt hatte und er sich erst nach meiner Nachricht wieder mehr um sich selbst kümmerte. Nachdem er meine Email gelesen hatte, lag er die halbe Nacht wach und fragte sich, warum dieses hübsche Mädchen von damals nun als wunderschöne Frau auf ihn zukam und sich sorgte. Ihn überkam das Gefühl, dass Karla tatsächlich Interesse an ihm hatte. Die Szenen auf dem Schulhof kamen wieder in sein Gedächtnis. Karla schaute nie in seine Richtung. Sie übersah ihn förmlich. Und nun schrieb sie ihm eine Nachricht und teilte ihm zwischen den Zeilen mit, dass sie sich für ihn als Mann interessierte. „Warum gerade jetzt?“ Diese Frage ließ ihn nun nicht mehr los.
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