Esabel blieb stehen und strich sich eine Haarsträh-ne hinters Ohr. Unruhig blickte sie mich an und stockte: „Hab geraten.“
Das nahm ich ihr nicht ab.
Es knackste neben mir. Ein Boxsack löste sich aus der Verankerung, flog auf uns zu und landete unvermittelt vor Esabels Füssen.
„Das gibt’s doch nicht! Esabel, seit diesen Zwicken passieren mir immer wieder solch verrückte Sachen, die mich verletzen oder sogar TÖTEN könnten!“
Esabel hob den Boxsack auf. Auf ihrem Hand-rücken entdeckte ich ein Zeichen. Ich zog ihre Hand zu mir, um es mir genauer anzuschauen. Es sah aussergewöhnlich aus. Da war ein halber Kreis, der einem ‚C‘ ähnelte. In der ‚C‘-Mitte hatte es ein kleines ‚o‘. Ein grosses ‚#‘ überquerte das ‚C‘ und das ‚o‘.
Auf Esabels Armband stiess ich auf das gleiche Zeichen, einfach in Klein.
„Was bedeutet dieses Zeichen?“, fragte ich sie und deutete auf ihre Hand.
Esabel steckte sie blitzartig in ihre Hosentasche. „Nichts. Es ist nur ein Tattoo.“
„Aber warum hast du das gleiche Symbol auch auf deinem Armband?“
Esabel wurde nervös. „Themawechsel. Kommen wir auf die Party zurück ... Was hast du gemacht, als du diese Zwicke bekamst?“
„Hmm, ich rannte ins Badezimmer und schaute mich im Spiegel an.“
„Und ist dann wieder irgendwas Mysteriöses passiert?“
Esabel war sehr neugierig, ich aber wollte zurück-haltend sein, da ich sie ja nicht kannte und ihr deshalb nicht vertrauen konnte. „Warum willst du das von mir wissen?“
„Weil ich neugierig bin“, erwiderte sie.
Ich runzelte die Stirn. „Es erschien eine dunkle Gestalt neben mir und …“
„Wie sah sie aus?“ Esabel blickte mir tief in die Augen.
Ich guckte mich um. „Gleich wie ich, einfach böse, und ihre Augen waren weiss und nicht blausilber-grau wie meine.“
Esabel drehte sich von mir ab. Sie lief hin und her und überlegte.
„Was machst du?“, wollte ich wissen.
„Nichts Spezielles.“
Sie verunsicherte mich mit ihrem geheimnisvollen Verhalten.
Unterdessen trudelten schon ein paar andere Teenager ein.
„So Kids, jeder stellt sich zu einem Boxsack und fängt schon einmal an zu trainieren“, sagte Amanda bestimmt und klatschte in die Hände.
Esabel und ich gehorchten ihr. Ich schlug bereits auf einen Sack ein. Ich spürte, wie mich Esabel dabei beobachtete.
Was ist denn das an Esabels Ohr? Abrupt stoppte ich meine Boxschläge und musterte ihr Ohr. Esabel bemerkte meinen kritischen Blick. Sie flüsterte irgendetwas. Wie angewurzelt stand sie vor mir und starrte mich an.
„Esabel? Alles oke?“ Ich wedelte mit meiner Hand vor ihren Augen. „Esabel?!“
Da hörte ich sie leise sagen: „Ihre halbe Seele ist draussen ... Was soll ich tun?“
Ich stutzte und hing mit meinem Blick immer noch an ihrem Ohr. Sie trug ein kleines Headset im Ohr. Es war pechschwarz, ein kleiner roter Punkt blink-te. Irgendjemand sprach mit ihr.
Plötzlich schien sie zu erwachen. Sie schüttelte sich kurz durch. „Oh, hey Anny. Wollen wir uns einmal treffen?“
Verwirrt blickte ich sie an. „Ööhmm, ich kenne dich noch nicht gut. Also nein danke, vielleicht ein anderes Mal.“
Ich wandte mich von ihr ab und kickte mit dem Fuss in den Boxsack. Esabel schlug wortlos ebenfalls gegen den Boxsack. Kurze Zeit später war die Trainingsstunde bereits vorüber.
Ich eilte nach Hause, geradewegs in mein Zimmer. Am Abend mochte ich nichts essen und wollte sofort schlafen gehen. Ich legte mich ins Bett und versuchte zu schlafen. Ich hatte Angst, dass mir in der Nacht irgendetwas passieren könnte, deshalb fand ich meinen Schlaf nicht. Ununterbrochen blickte ich auf die Uhr, und irgendwann fielen mir die Augen doch noch zu.
Der nächste Tag startete. Meine Augen hatte ich kaum geöffnet, als vor mir mein Stuhl aus dem Nichts umkippte. Ich schrie auf, doch zum Glück hörte mich niemand. Hastig stellte ich ihn wieder auf und spürte ein Brennen in meiner linken Schulter. Mein Kontrollblick zeigte mir, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie war aufgeschürft. Fragend schaute ich mich in meinem Zimmer um und bemerkte, dass auf meiner Matratze meine drei Nagelfeilen lagen, dort, wo meine linke Schulter gelegen hatte. Wortlos legte ich sie aufs Pult und wollte so schnell wie möglich raus aus meinem Zimmer. Ich rannte nach unten.
Mein Vater sass auf dem Sofa und las die Zeitung. Ich sauste in die Küche. Jelly war nicht dort. Ich suchte sie, doch ich fand sie nirgends.
Schweigend ging ich zu Dad, der noch immer seine Zeitung vor seinem Gesicht hielt. „Dad, wo ist Jelly?“
Mein Vater nuschelte irgendetwas.
„Dad! HALLO?!! Wo ist deine Sis?“
Das gibt’s ja nicht! Er ignorierte mich, weil er zu stark in seine Zeitung vertieft war. Forsch packte ich die Zeitung und zog sie runter. Dad schaute mir verdutzt in die Augen, doch ich gab nicht locker. „Wo steckt Jelly?“
Übrigens, Dad hat hellbraune Haare, und seine Augen sind blaugrün. Er hat die gleiche Hautfarbe wie ich, und er ist genau einen Kopf grösser als Levi. Er ist ein sehr attraktiver und hübscher Mann. Er heisst Simon, doch alle nennen ihn Sim.
Dad trug seine schlabbrige Lieblingstrainerhose und ein helles T-Shirt. Da es Sonntag war und er frei hatte, konnte er heute machen, was er wollte.
Endlich antwortete er mir. „Im Kochkurs, wo sonst?“
Ich seufzte.
„Anny, was war eigentlich gestern mit dir los?“
Ich setzte mich neben ihn hin. „Ich weiss auch nicht. Es war einfach ein sehr verrückter Tag.“
Dad ging gottlob nicht weiter drauf ein. „Einfach so als Tipp. Es ist 11.00 Uhr, und du solltest bald im Kickboxtraining sein“, meinte er nüchtern.
Ich riss meine Augen auf, hastete hoch in mein Zimmer, zog ein gelbes Top und dunkle Boxer-shorts an, packte meinen Rucksack und verabschiedete mich von Dad. „Danke Dad!“
Ich rannte aus dem Haus und machte mich auf in die Stadt. Unterwegs meinte ich, Jay, Clavia, Clor und ESABEL gesehen zu haben. Doch ich hatte mich getäuscht. Ich lief weiter und erreichte das Kickboxcenter. Drinnen zog ich meine grauen Schuhe aus.
Im Trainingsraum begrüsste mich freundlich Amanda. „Hallo, Kleine! Bist du bereit?“, fragte sie mich, und ich verstand nicht, was sie damit meinte.
„Wofür?“
„Fürs morgige Turnier.“
„Aha, ja, ich denke schon.“
„Gut, dann los, trainiere!“
Sie scheuchte mich zu einem Boxsack, und ich schlug mit meiner Faust darauf ein. Kurze Zeit später war auch Esabel da. Sie spielte mit einem anderen Armband in der Hand und kam auf mich zu. „Hey Anny, ich habe etwas für dich.“ Sie reichte mir das Armband.
Ich runzelte die Stirn. Das Band war silberrot und sah cool aus. „Sorry Esabel, aber ich bin ein Mädchen, das nicht gerne Armbänder trägt. Wieso gibst du mir eines?“
„Ich dachte eben, es würde dir gefallen.“
„Natürlich gefällt es mir, sogar sehr, aber ich trage keine Armbänder.“
„Nimmst du es trotzdem?“
Ich zog es ihr zuliebe an.
„Hhmm, es fühlt sich gut an.“
„Ich weiss, deshalb trage ich es auch. Ich gehöre auch nicht zu den Mädchen, die gerne Schmuck tragen.“
Schmunzelnd schlug ich mit meiner Faust noch-mals gegen den Boxsack. Esabel sah mir kurz zu, schaute dann aber wieder weg.
„Tut mir leid, Amanda, aber ich muss mal schnell zur Toilette!“
Amanda gab Esabel ihr Okay, und sie verliess schnell den Raum. Da ich das irgendwie merk-würdig fand, eilte ich ihr nach. Ich sah, wie Esabel vor dem Ausgang stand und hin und her blickte. Hinter der Tür versteckte ich mich. Sie verliess das Haus. Auf leisen Sohlen schlich ich hinterher. Dann rannte sie weg. Esabel bog in eine dunkle Gasse ein, wo zwei alte Häuser dicht neben-einander standen. Sie blieb stehen. Ich versteckte mich hinter einem Busch.
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