»Wo ist er?«
»Er ist früh am Morgen nach Santa Barbara gefahren. Vor heute Abend wird er nicht zurücksein.«
»Wo sind alle anderen?«
»Pilar ist im Bett, krank. Teresa ist im Bett, krank. Pepe ist in seinem Zimmer und liest. Xavier ist im Wohnzimmer. Está tomado. « Betrunken, vergeben. Laura merkte, dass Dolores am Fußende ihres Bettes saß. Das liegt daran, dass wir jetzt gleich sind, verdorben, dachte sie. Dolores musste den Gedanken gespürt haben; sie sprang mit einer Entschuldigung auf.
» Perdóname , Doña Laura. Ich bin sehr müde. Der Morgen ist verwirrend gewesen.«
Laura war beschämt, streckte sich, um Dolores’ Hand zu halten.
»Verzeih mir. Es ist auf jeden Fall ein verwirrender Morgen. Zum einen ist es schon Nachmittag. Mir tut alles weh. Oh! Schau mein Gesicht an!« Im dunklen Spiegel war auf einer Wange ein grober Kratzer, ein Auge war grün und blau. Laura brach in selbstmitleidige Schluchzer aus. Auch Dolores begann zu weinen. Die Mädchen hielten einander fest, wiegten einander, und dann verließ Dolores das Zimmer.
Im Haus war es still. Der einzige Jagdhund, der im Haus bleiben durfte, lief über die glänzenden Flure, seine Krallen klickten. Ein einsames Geräusch, als klingelte ein Telefon in einem leeren Haus.
Xavier schlief im Arbeitszimmer seines Vaters. Er wachte auf, als Laura an ihm vorbeiging, um das Buch von Turgenjew zu holen.
»Da ist ja unsere edle Wilde! Atalanta, die in die eisigen Fluten sprang, um das verreckende Biest zu retten!«
»Halt die Klappe.«
»Tut mir leid, gringuita . Dir muss es scheußlich gehen. Komm, setz dich zu mir.«
Pepe tauchte in der Tür auf. Er hatte sich gerade rasiert, war blass.
»Laura! ¡Pobrecita! Welch ein furchtbarer Unfall. Geht es dir gut? Und Xavier, stimmt was nicht? Was ist los?«
»Komm rein, Pepito. Du siehst genauso schlecht aus wie wir. Hast du Angst? Deine Meinung geändert?« Xavier stand auf, schenkte drei Gläser Sherry ein, legte ein Scheit aufs Feuer.
»Es ist sicher schon spät genug zum Sherrytrinken. Wie spät ist es?« Wie auf Kommando kam ein mozo herein, um sie zu fragen, ob sie Mittagessen wollten. »Gott, nein.«
»Ich meine, wir wollen doch nichts essen, oder? Im Ernst, Pepe, geht es dir gut?«
Pepe nickte. »Ja. Ich bin nur dabei, mich zu verabschieden. Aber es ist, als wäre ich schon gegangen.«
»So geht es mir auch. Aber wenigstens weißt du, wo du hingehst. Ich sage nur auf Wiedersehen.«
»Wem?«
»Allem. Teresa. Dem Gesetz. Papá. Allem, was bis jetzt war.«
»Du meinst es ernst. Was wirst du tun?«
»So weit bin ich noch nicht. Es ist das letzte Mal, dass ich in Junquillos bin, so viel weiß ich.«
» Ai, Xavier.« Die Brüder standen da, in einer Umarmung, und dann saßen die drei schweigend beieinander. Das Feuer. Regen an den Fensterscheiben. Verwaschener gelber Aromo am See.
» ¿Y tú, gringa? Du wirst wiederkommen, ganz bestimmt«, sagte Xavier.
»Nein. Werde ich nicht.«
»Natürlich wirst du das«, sagte Pepe. »Papá hat dich so gern.«
Xavier lachte. »Und Laura, wem sagst du auf Wiedersehen? Deiner Unschuld?«
»Ja, Xavier, das tue ich«, sagte Laura.
»Xavier, wie unhöflich!« Pepe war schockiert. »Du bist betrunken!«
Don Andrés kam rechtzeitig zum Abendessen zurück, ritt Electra. Das Stakkato der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster. Dann kamen zwei Männer mit einem Lastwagen und wurden ins Wohnzimmer geführt. Don Andrés war gegangen, um sich umzuziehen.
Beim Abendessen war Xavier sehr betrunken, verschüttete Wein. Pepe war aschfahl, still. Weder Laura noch Teresa verbargen, dass es ihnen schlecht ging. Don Andrés redete über Entwässerung, Ernte, Nutzholz. Es war Pepe, der als Erster begriff, was los war.
»Papá! Du verkaufst doch nicht etwa Junquillos?«
»Alles außer dem Haus und den Ställen.«
Tränen strömten in zwei dünnen Linien über Pepes Gesicht. Teresa verließ den Tisch, schluchzend. Wenn ich nett wäre, würde ich zu ihr gehen, dachte Laura, aber sie ging nicht. Xavier lachte bitter.
»Verflucht gerissen, wie immer. Du weißt, dass das Land der Bevölkerung gegeben wird. Warum nicht auch das edle Haus? Es wird schnell genug passieren. Vielleicht eine Schule.«
Im Arbeitszimmer redeten die Männer bis weit nach Mitternacht. Laura las in ihrem Zimmer im Licht der Lampe Erste Liebe zu Ende. Sie lag wach. Aromo und Nadelbäume. Sie dachte an nichts, war einfach wach, alleine.
Die Zugfahrt dauerte lange, verspätet durch Regen, Überschwemmungen. Don Andrés arbeitete an Papieren. Laura saß ihm gegenüber. Auf der anderen Seite des Ganges saß Pepe und las, Xavier schlief oder tat, als würde er schlafen, während Teresa an etwas Umfangreichem in dunklem Orange stickte. Sie schien sich in einem beleidigten Unverheiratetsein eingerichtet zu haben, hatte eine Brille aufgesetzt, die sie vorher nie getragen hatte. Keine Babysprache mehr. Dann schliefen sie und Pepe ebenfalls ein. Don Andrés sah Laura an.
»Junquillos war reizend«, sagte sie.
»Du bist reizend. Bitte vergib mir, Laura.«
Er sah wieder nach unten auf die Papiere in seinem Schoß. Laura starrte aus dem mit Ruß bespritzten Fenster. Regen tropfte von den durchnässten Aromobäumen. Tja, dachte Laura … ein Wochenende auf dem Lande.
Am Bahnhof eilte Teresas Mutter mit Teresa davon, als hätte es einen Unfall gegeben. Lauras Vater hatte einen chinesischen Fahrer geschickt.
Auf Wiedersehen, danke für eine fabelhafte Zeit.
Das Haus war still, als sie nach Hause kam, kalt. María kam herein, band ihren Bademantel zu. Sie umarmten einander.
»Wir haben dich vermisst! Kann ich dir einen Kakao machen? Was ist mit deinem armen Gesicht passiert?«
»Ein Unfall. Eigentlich ein Abenteuer, aber ich bin zu müde, um davon zu erzählen. Wo sind meine Eltern?«
»Deine Mutter ist im Krankenhaus. Sie hat zu viele Tabletten genommen; sie wurde blau und wachte nicht mehr auf. Morgen ist sie wieder zu Hause.«
»War sie verärgert? Ist was passiert?«
María zuckte mit den Schultern. » ¿Quién sabe? Dein Vater hat gesagt, sie wäre einfach nur übermüdet gewesen.«
»Übermüdet!« Die beiden kicherten.
»Ist er jetzt bei ihr?«
»Nein. Er ist auf einer Abendgesellschaft. Doña, du siehst sehr schlecht aus.«
»Ich … ich bin übermüdet! Es war wunderschön, María. Ich erzähle dir morgen alles. Ich gehe ins Bett. Kein Bad, kein Kakao. Aber weck mich morgen früh um fünf. Ich muss noch für Chemie lernen.«
Büffeln für Chemie am Morgen. Genug Zeit, um mit Tinte Symbole auf ihre Handgelenke unter den weißen Manschetten zu schreiben. Aber der Test lief nicht so schlecht. Dann Physik. Der trockene, trockene Señor Ortega. Algebra. Geschichte. Lauras Hand tat vom Mitschreiben weh.
Endlich Mittagessen. Das Tischgebet wurde immer auf Englisch gesprochen. Segne, Vater, diese Speise, dir zur Kraft und uns zum Preise. Während des Essens durfte nur Französisch gesprochen werden; es wurde nicht viel gesagt. Ein Spaziergang durch den Rosengarten. Gerade genug Zeit, um zu erfahren, dass Conchi sich wieder verliebt hatte. Er sagte tú zu ihr, hielt im Kino ihre Hand.
Quena war den ganzen Tag Ski gefahren, jeden Tag. Der Schnee war schön gewesen. Emile Allais hatte ihr Unterricht gegeben, ohne dafür etwas in Rechnung zu stellen. Laura erzählte kurz, aber dramatisch von ihrem Unfall mit der Kutsche. Sie schwärmte von Electra, dem Pferd, der Marie-Antoinette-Kutsche. Mehr von Electra. Ja, sie hatte schließlich doch ein Reitkleid getragen. »Oh, Gott sei Dank«, seufzte Conchi.
Die Glocke läutete. Englisch. Flower in the Crannied Wall. Dann Französisch mit Madame Perea, die über dem Strickzeug döste. Le passé simple. Endlich Spanisch. Wo waren wir? »¡Suspiros!«
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