Erleichtert setzte sie sich auf den Platz ihm gegenüber, presste die Stirn an die Scheibe, kalt. An der Außenseite war das Glas vom Ruß der Dampfmaschine bespritzt. Gelbe Aromoblüten spiegelten sich im Bío-Bío-Fluss, in Seen, in Pfützen. Don Andrés nannte die Namen der Städte, an denen sie vorbeifuhren, der Flüsse, die sie überquerten, nannte die Namen der Obstbäume, erzählte ihr, was auf den Feldern gesät werden würde. Als der Schaffner vorbeikam und einen Gong fürs Mittagessen schlug, sagte Don Andrés zu den anderen, sie sollten vorausgehen. So einfach war sie, die Verkoppelung von Don Andrés und Laura für die Zeit der Ferien.
Im Speisewagen gab es mehr Kellner und Hilfskellner als Gäste, eine übertriebene Menge an Porzellan, Silberbesteck und Weingläsern für jeden Gang, endlos viele Gänge, die aus einer Bordküche gebracht wurden, die kaum einen Quadratmeter maß.
Don Andrés fragte sie nach den Bergen in Idaho und Montana, den Silber- und Zinkminen. Wie haben die Bergleute gelebt? Wo waren die Schmelzhütten? Sie war froh, dass sie über diese Orte sprechen konnte, hatte Heimweh nach ihnen. Laura hatte es ihrem Vater noch nicht verziehen, dass er den Bergbau verlassen hatte, um Manager und Politiker zu werden. Er hatte das nicht gewollt. Es war Helen, die sich so nach Glanz, Romantik und Geld gesehnt hatte. Und jetzt verließ sie, wie in den Rocky Mountains, kaum mehr ihr Zimmer.
Laura erzählte Don Andrés von der Wüste in New Mexico und Arizona. Ja, es war wie Antofagasta. Sie erzählte ihm, wie sie mit ihrem Vater in den Bergen wandern gegangen war, wie sie in den Bächen Gold gewaschen hatten. Er hatte sie in die Minen mitgenommen, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Manchmal in einem normalen Aufzug im Minenschacht; in kleinen Minen auf einem großen Fass, das an einem Seil befestigt war, sie hielt sich am Seil fest, ihr Kopf auf Höhe des rauen Drillichs eines Bergmannknies. Der Geruch der Minen. Dunkel, dunkel. Wie es sich anfühlte, direkt in die Erde hineinzugehen. Der Schock, als sie in Rancagua ihren ersten Tagebau sah, die Anaconda-Kupfergrube. Die gewaltige Spalte, die Schändung.
Sie errötete bei diesem Wort. Sie hatte geredet und geredet, schwindlig vom Wein und der Aufmerksamkeit. Wie peinlich, bitte entschuldigen Sie. Ganz und gar nicht. Bezaubert. Sie und Don Andrés waren die Einzigen, die noch im Speisewagen saßen. Es gab so viele Kellner, dass sie es nicht bemerkt hatte.
Seinen Arm auf der Lehne ihres Stuhles hatte sie nicht bemerkt, wie sein Haar ihre Schulter streifte, als er ihr Glas füllte. Ohne sich ihrer selbst bewusst zu sein, ohne sich überhaupt etwas bewusst zu sein, hatte sie sich in die Gegenwart dieses Mannes hineingleiten lassen. In den Zwischenräumen zwischen den Waggons nahm er ihren Arm, um sie zu stützen, zog sie zu sich, als ein mozo mit Gepäck vorbeikam. Sie reagierte auf diese Intimitäten nicht, was sie bei jedem anderen Mann getan hätte. Sie war einfach eingehüllt.
Das würde ihr nie wieder passieren. Als sie älter wurde, behielt sie immer die Kontrolle, auch wenn sie gefügig war. Das war das erste und letzte Mal, dass jemand die Macht über sie hatte.
Pepe schlief auf der anderen Seite des Ganges von Xavier und Teresa. Sein Gesicht war blass, dunkle Wimpern verschatteten seine Wangenknochen, in den Händen hielt er einen Rosenkranz, das Lateinbuch. Xavier und Teresa spielten Canasta.
»Gut. Wir machen mit.«
»Papá, du spielst nie Canasta.«
»Teresa, du und ich werden gegen Xavier und Laura spielen.«
Angenehm, der Rest der Reise. Draußen wurde es dunkel. Scherze und Gelächter. Das beruhigende Geräusch des Mischens von Karten. Klapp, klapp, klapp, als sie ausgeteilt wurden. Der Pfiff des Zuges, der gleichmäßige Regen auf dem Metalldach. Klick und Aufflammen des goldenen Zigarettenanzünders von Don Andrés. Seine grauen Augen, die durch den Rauch blinzelten.
Der Tee wurde von vier mozos im Smoking serviert. Ein Samowar mit Tee, eine Kaffeekanne aus Zinn, Sandwiches, cuchuflís mit Karamel. Teresa goss ein. Sie und Laura waren jetzt freundlich zueinander, unterhielten sich über Kaufhäuser. New York. Saks. Bergdorf’s.
Es war dunkel und regnete immer noch, als der Zug in Santa Bárbara anhielt. Sie wurden von Gabriel abgeholt, dem Verwalter der Farm. Ein safranfarbener Huaso in einem dicken Poncho, breitkrempiger Hut, Stiefel mit Sporen. Laura und Don Andrés fuhren im Fahrerhaus, die anderen kletterten auf die Pritsche des Lastwagens, über die eine Plane gespannt war. Gabriel und zwei andere Männer luden das Gepäck ein, Kisten über Kisten voller Lebensmittel.
Der Lastwagen war das einzige Fahrzeug am Bahnhof und auf den schlammigen Straßen. Auf dem Marktplatz gab es zwei Gaslaternen, Frauen in schwarzen Schals eilten zur Vesper in einer von Kerzen erleuchteten Kirche.
Als sie den Marktplatz verlassen hatte, war niemand mehr zu sehen. Dann stundenlang über offenes Land, auf der schlechten Straße, kein einziges Haus oder Licht, auch kein anderes Auto. Keine Windmühle, kein Telefonmast. Rehe und Füchse, Hasen und andere Feldtiere rannten im Scheinwerferlicht davon. Der Regen war das einzige Geräusch. Don Andrés und Gabriel unterhielten sich über das Pflügen, das Pflanzen, über Pferde und Schafe. Wer gestorben war, welche Männer in die Stadt gezogen waren. Santiago war die Stadt. Endlich stießen sie auf blasse, flackernde Lichter, eine Ansammlung von Hütten in einem Hain von Eukalyptusbäumen. Der Lastwagen wurde langsamer, und Don Andrés kurbelte das Fenster herunter. Eine Wolke von Aromonadelbäumen, der Geruch nach Eichenholzfeuer. Seine Tagelöhner wohnten hier. Don Andrés verwendete nicht das chilenische Wort für Bauern, roto , was kaputt bedeutet.
Dann fuhren sie weiter, eine Anhöhe hinauf, hielten vor hohen Eisentoren. Eine Gestalt in einem Umhang öffnete die Tore, winkte sie weiter, meilenweit an Pappeln vorbei, Obstgärten, die bis auf ein blassrosa Gestöber aus Pflaumenblüten kahl waren. Auf der Spitze des Hügels ließ Don Andrés Gabriel den Lastwagen anhalten. Sie stiegen im Regen aus. Weit unten im Tal stand ein steinernes Giebelhaus, gelbe Lichter spiegelten sich in einem See darunter. Sonst gab es im ganzen Umkreis meilenweit nirgendwo ein Licht, aber überall pulsierten im Dunkeln die gelben Haine der Aromobäume. Laura war ergriffen von der majestätischen Aussicht, der Stille, aber sie lachte.
»In einem amerikanischen Film würde man jetzt sagen: All das gehört mir.«
»Aber es ist ein Schwarz-Weiß-Film. Ich kann nur sagen, dass es all das bald nicht mehr gibt.«
Zurück im Lastwagen fragte sie ihn, ob es eine Revolution geben würde, ob die Kommunisten je an die Macht kommen könnten.
» Claro que sí. Das wird bald geschehen.«
»Mein Vater sagt, es kann nicht passieren.«
»Dein Vater ist sehr naiv. Aber das macht natürlich seinen Charme aus.«
Im kopfsteingepflasterten Hof bellten Hunde. Vor der Lampe und dem Kerzenlicht, das aus der offenen Tür fiel, waren die Silhouetten Dutzender Bediensteter zu sehen. Im Inneren, unter persischen Teppichen in üppigen Farben, leuchtete der Parkettboden. Dunkle spanische Gemälde, blasse Gesichter verträumt im Kerzenlicht. Pilar, eine alte Frau, gab allen die Hand. Don Andrés sagte ihr, sie wäre Teresas Anstandsdame, sie sollte Teresa in ihr Zimmer bringen und auspacken. Wo ist Dolores?
Aquí, señor. Ein schönes, grünäugiges Mädchen, nicht viel älter als Laura, mit schwarzen Zöpfen bis zur Hüfte. Sie solle sich um Laura kümmern, sagte er. Laura folgte dem Mädchen die geschwungene Treppe hinauf. Die beiden sprangen leichtfüßig die Stufen hinauf, wie Kinder. Laura versuchte sich vorzustellen, wie das Haus gebaut worden war, wie das Material oder die Arbeiter überhaupt an diesen entlegenen Ort gekommen waren … wie zur Errichtung der Sphinx. Immer wieder blieb sie stehen, um sich die Wandteppiche und Schnitzereien anzusehen. Dolores lachte. »Warte, bis du dein Zimmer siehst!«
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