1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Laura zog ein Cocktailkleid an und trug Make-up auf, was sie in Gegenwart ihrer Freundinnen nie gemacht hätte. Sie sah wie mindestens einundzwanzig aus, hübsch und ein bisschen billig. Ihr Vater, im Smoking, klopfte an die Tür, und sie gingen nach unten. Sie begrüßten Leute des Militärs und Leute vom Bergbau, Diplomaten, chilenische und peruanische Würdenträger, den britischen und den amerikanischen Botschafter. Zu Lauras Aufgaben gehörte es, zu übersetzen; von den Amerikanern sprachen nur wenige spanisch. Helen hatte in drei Jahren nur »Traiga hielo« gelernt. »Traiga café.« Laura ging herum, stellte die Leute einander vor, machte Konversation. Von Señor Soto, einem heruntergekommenen bolivianischen Beamten, wurde sie bedrängt. Er machte Anspielungen, anzügliche Bemerkungen. Laura gab ihrem Vater ein Zeichen, der herüberkam, aber Señor Soto nur angrinste und sagte: »Ist sie nicht süß?« und ging. Laura befreite ihren Arm.
Andrés Ibáñez-Grey war im Foyer. Sein Haar war silbern, seine Augen von einem so blassen Grau, dass sie wie die blicklosen Augen einer Statue aussahen. Domingo nahm ihm Hut und Mantel ab. Laura trat auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.
»Ich bin Laura. Nett von Ihnen, mich auf die Farm einzuladen, auch wenn meine Eltern nicht mitkommen können.« Don Andrés hielt ihre Hand fest in seiner.
»Ted sagte, sein Kind würde mitkommen, nicht eine entzückende Frau.«
»Ich bin vierzehn. Ich habe mich nur für dieses Fest schick gemacht. Bitte kommen Sie herein.« Der amerikanische Botschafter stand direkt vor ihnen. Die Männer umarmten einander. Laura floh, peinlich berührt.
Sie brachte ein Tablett mit Essen und Kaffee zu ihrer Mutter hinauf, setzte sie im Bett auf. Laura beschrieb ihr das Essen und die Blumen, erzählte ihr, wie sich jeder gekleidet hatte, wer grüßen ließ.
Sie erzählte Helen von Andrés Ibáñez-Grey. »Mama, er ist hundertmal beeindruckender als auf den Fotos.« Ein gebieterischer Jefferson.
»Er ist auf jeden Fall mehr wert als so ein alter Zwanzig-Dollar-Schein!«, sagte Helen.
»Ich wünschte, du würdest morgen mitkommen. Kannst du es dir nicht anders überlegen? Ich möchte nicht hinfahren.«
»Sei nicht albern. Es soll fantastisch sein. Außerdem muss dein Daddy sich wirklich gut mit ihm stellen. Ich wünschte, ich könnte mich um diese Dinge kümmern.«
»Welche Dinge?«
Helen seufzte. »Oh, verdammt. Alles.«
Sie hatte nichts gegessen. »Mein Rücken bringt mich um. Ich werde versuchen, ein bisschen zu schlafen.« Sie hatte diesen Blick, der sagte, dass sie einen Drink haben wollte. Allerdings hatte Laura ihre Mutter noch nie trinken sehen.
»Gute Nacht, Mama.«
Laura schaute noch einmal nach, wie es um die Dinge in der Küche stand, ging aber nicht mehr zum Fest. Ihr Vater habe sie gesucht, sagte María, aber Laura ignorierte sie. In ihrem Zimmer rief sie vor dem Schlafengehen Conchi an. Sie redeten über Quena, wie rechthaberisch und metete sie sei. Laura wusste, dass Quena und Conchi wahrscheinlich erst vor wenigen Minuten über sie gelästert hatten. Wenn sie nicht so schläfrig gewesen wäre, hätte sie Quena angerufen, um darüber zu reden, wie dumm es von Conchi war, mit Lautaro Donoso auszugehen. Er war viel zu alt, hatte Rennpferde. Er ging die ganze Nacht aus, besuchte dann die Dampfbäder und ging, immer noch im Smoking und ohne im Bett gewesen zu sein, zur Morgenmesse.
Die Mädchen trafen sich alle mit Männern, die viel älter waren als sie. Es war selbstverständlich, dass diese Männer ein anderes, völlig getrenntes gesellschaftliches Leben hatten. Mit den jungen, unberührten Mädchen vom Santiago College oder aus den französischen Schulen gingen sie zu Rugby- oder Kricketspielen, spielten Golf und Tennis. Sie führten die Mädchen in die Oper aus, in Begleitung einer Anstandsdame zum Tanz und vor dem Dinner in Clubs. Aber spätabends lebten diese Männer in einer anderen Welt, einer Welt der Nachtclubs, Kasinos und Partys, mit Geliebten oder Frauen von medio pelo . Das würde ihr ganzes Leben so weitergehen, hatte eigentlich schon begonnen, als sie noch Kinder waren. Ihre Mütter, in Pelzen, küssten sie abends vor dem Einschlafen. Aber es waren die Dienstmädchen, die sie fütterten, in den Schlaf schaukelten. María packte Lauras Sachen, während Laura sich unterhielt, und als sie mit Packen fertig war, fing sie an, Laura die Haare zu kämmen. Laura legte die Hand über die Sprechmuschel. Nein, María, du bist zu müde. Hasta mañana. Zu Conchi sagte sie, sie müsse ins Bett gehen, bevor es zu kalt würde. María hatte einen heißen Ziegel ans Fußende gelegt.
Laura wollte gerade das Licht ausschalten, als María mit Kakao zurückkam. Sie küsste Laura auf die Stirn. Buenas noches, mi doña. Von den leeren Straßen draußen hallte der Gesang des Nachtwächters wider … Medianoche y andado. Mitternacht und »gelaufen«. Andado y sereno … Heil und gesund.
Regen schlug auf das Glasdach des dunklen Bahnhofs von Mapocho. Draußen standen schwarz glänzende, schnittige Züge. Schwarze Schirme, schwarz uniformierte Gepäckträger verschwanden im weißen Rauch, der fauchend unter den Zügen hervorquoll. Fotografen waren da, nicht von den Gesellschaftsseiten, wie Conchi gehofft hatte, sondern von der linksgerichteten Zeitung. Der Bergbausenator und der Yankee-Imperialist, die unser Land plündern, beraten sich im Bahnhof Mapocho.
Die beiden Männer begrüßten einander und verabschiedeten sich. Laura stand abseits, unbeholfen, neben Don Andrés’ Sohn Pepe. Er war jung, trug eine schwarze Schuluniform. Er wippte, wurde rot, starrte seine Füße an. Xavier, der älteste Sohn, war das genaue Gegenteil. Schneidig, herablassend, in englischem Tweed. Laura mochte ihn schon jetzt nicht. Warum ist Gelangweiltsein weltmännisch? Elegante Reisende und Theaterbesucher tragen denselben gequälten Ausdruck von Ennui zur Schau. Warum kann man nicht sagen »Eine Reise? Aufregend! Wunderbares Stück!«?
Xavier und seine Verlobte Teresa stritten sich mit Teresas Mutter. Die Mutter war sehr verärgert. Don Andrés’ Schwester Doña Isabel war krank, konnte nicht kommen. Teresas Mutter fand, dass es keine angemessene Anstandsdame gab. Don Andrés überzeugte sie davon, dass seine Haushälterin Pilar zugegen sein würde, um auf Teresa und Laura aufzupassen. Besänftigt verließen die Frauen mit Lauras Vater den Bahnhof.
Don Andrés saß am Fenster auf rotem Samt. Der Schaffner und mehrere Gepäckträger standen redend und lachend bei ihm, die Hüte in den Händen. Auf der anderen Seite des Ganges saßen Xavier und Teresa Laura und Pepe gegenüber. Teresa redete in Babysprache und mit einer hohen Stimme, die nicht zu ihrer matronenhaften Gestalt passte, mit Xavier. Pepe hatte schon angefangen, einen lateinischen Text zu lesen, ehe der Zug überhaupt den Bahnhof verließ.
Xavier erzählte Laura, dass Pepe in zwei Wochen der Priesterschaft beitreten würde. Uns für immer verloren. Aber, natürlich, gefunden. Bist du katholisch? Xavier war groß, sein Haar pechschwarz, ansonsten war er seinem Vater sehr ähnlich, aristokratisch, sarkastisch. Mit größtmöglichem Takt »ordnete« er Laura »ein«. Gute Schule. Protzige Umgebung. Nein, sie kannte Europa nicht. Sie spielte Tennis im Prince of Wales. Gehörte nicht zum El Golf Club. Sommer in Viña del Mar. Sie kannte Marisol Edwards, aber nicht die Dusaillants. Ihr Französisch war gut. Du hast Sartre nicht gelesen?
»Ich habe sehr wenig gelesen. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich in Bergbausiedlungen in den Staaten verbracht. Ich bin wie Jemmy Buttons«, sagte Laura. Wenigstens hatte sie Subercaseaux gelesen, wenn schon nicht Darwin.
»Eine hübschere Version des edlen Wilden«, sagte Don Andrés von der anderen Seite des Ganges. »Laura, komm, setz dich zu mir. Ich erzähl dir, wo wir sind.«
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