Marijke Schermer - Unwetter

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Emilias Leben scheint perfekt zu sein. Sie liebt ihren Job, ist glücklich verheiratet und Mutter zweier kleiner Söhne. Seit die Familie vor den Toren Amsterdams lebt, verbringen Emilia und ihr Mann ihre Zeit damit, den Kindern hinterherzurennen, Freunde einzuladen und ihr Haus zu renovieren. Sie erfreuen sich an den kleinen Dingen des Lebens. Doch dann bricht die Vergangenheit in die Gegenwart ein, die Erinnerung an ein traumatisches Erlebnis überfällt Emilia, und ihre Welt gerät aus den Fugen …
Zwölf Jahre lang hat Emilia ein schreckliches Geheimnis gehütet, kann sie es weiter verbergen? Würde ihr Mann verstehen, dass sie so lange geschwiegen hat? Während Emilia mit ihrer Vergangenheit ringt, zieht das Misstrauen ein in ihre Ehe. Und der Himmel über der ländlichen Idylle verfinstert sich. Ein Roman über die Paradoxien des Zusammenlebens – das Bedürfnis nach Freiheit und die Sehnsucht nach Intimität, der die Frage stellt, ob wir einander je wirklich kennen können, ob nicht ein jeder von uns unter seiner eigenen Glasglocke lebt.

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Marijke Schermer

Unwetter

Roman

Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers

Kampa

1

»Nehmen wir dein Auto?«

»Wir sind viel zu spät dran.«

Ihr Mann kommt aus der Küche, im schicken Anzug. Er ist groß und hager und hat ein ausgesprochen schönes Gesicht. Der Topf in seinen Händen und das Geschirrtuch über seiner Schulter zeugen von ganzem Einsatz. Er stellt den Topf auf den Tisch und wirft das Tuch Richtung Büfett, das er um ein Haar verfehlt. Leo lacht mit hohem, klarem Stimmchen. Alicia, das Nachbarsmädchen, das zum Aufpassen da ist, bindet Osip ein Lätzchen um. Sie hat sich in ein paar Wochen vom androgynen Kind zur Jahrmarktsattraktion gewandelt. Wangen und Lippen sind rot angemalt, und sie trägt idiotische Klamotten, die viel zu viel Haut frei lassen. Sie küssen die Kinder zum Abschied, und Emilia muss sich beherrschen, um nicht auch Alicia über den Kopf zu streichen.

»Du fährst. Wir schaffen es.«

Sie prescht die Auffahrt hoch und biegt auf die Straße. Der erste Streckenabschnitt führt über den Deich, durch das wellige Flussdelta, auf einer schmalen Landstraße zwischen Pappeln entlang. Die untergehende Sommersonne hat nicht mehr viel Kraft, und es bläst ein tüchtiger Wind. Auf den Wiesen zu ihrer Rechten stehen Schafe. Wenig später, auf der Autobahn, kann sie richtig schnell fahren, das macht sie gerne. Sie reden nicht viel. Durch das Fenster weht eine Erinnerung an lange Fahrten in den Süden herein, die nackten Beine aus dem Fenster, singend. Kurz vor Amsterdam entspinnt sich eine kleine Diskussion darüber, wie sie am besten zum Leidseplein kommen.

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagt sie und fährt so, wie sie es für am besten hält. Sie spekuliert auf einen Parkplatz nah am Theater und hat Glück. Das Lösen eines Parkscheins würde genau die Zeit kosten, die sie nicht mehr haben, beschließen sie. Sie rennen quer über den Platz und werden fast von einem Radfahrer erwischt. Bruch ruft, beim nächsten Mal sollten sie sich ein Hotelzimmer nehmen; für einen Moment kommt der Wunsch in ihnen auf, sie könnten sich vom Stadtleben aufsaugen lassen, statt später, garantiert wieder gehetzt, in die Stille zurückkehren zu müssen.

Sie rennen ins Schauspielhaus, die Treppe zum Rang hinauf. Sie sind die letzten, bevor rundum die Türen geschlossen werden. Er knüllt ihre Mäntel unter seinen Sitz und zwickt sie kurz in die Seite.

Nach dem Applaus, beim Verlassen des Saals, verlieren sie sich aus den Augen. Emilia sucht eine Weile. Bruch wartet weder an der Tür noch oben an der Treppe auf sie. Sie irrt durch die Gänge, schaut auf ihr Handy. Keine Mitteilung. Vermutlich hat Bruch Vincent getroffen, den Regisseur der Aufführung, der ein alter Freund von ihm ist. Im Foyer bestellt sie sich ein Bier. Die Schauspielerin, die die Blanche spielte, hat die ganze biedere Inszenierung gerettet. Jeden Satz von Tennessee Williams machte sie Wort für Wort zur Verkündigung. Ich habe Gott gedankt dafür, dass Sie da waren, denn Sie schienen gütig zu sein – ein Spalt im Felsen der Welt, in dem ich mich verstecken konnte! Sie ließ die innere Verzweiflung hervorbrechen wie eine Woge, der kein Einhalt zu gebieten ist. Für Emilia ist irgendwo an diesem Abend ein Gefühl der Leere aufgeklafft, das sie mit tiefer Bedeutung assoziiert. Es hat sie melancholisch gemacht.

Sie geht auf den Ajax-Balkon hinaus. Er ist so leer und verlassen, dass sie sich fragt, ob es überhaupt gestattet ist, dass sie sich hier aufhält. Aufeinandergetürmte Getränkekisten stehen herum und zwei windschiefe Sonnenschirme. Es hat geregnet. Sie kramt in ihrer Tasche erfolglos nach Zigaretten. Gähnt. Und da packt sie plötzlich jemand von hinten, fasst ihre Schulter mit eisernem Griff. Eine große, warme, leicht nach Kreuzkümmel riechende Hand legt sich über ihr Gesicht und drückt ihr die Augen zu, zwei Finger liegen schräg über ihren Lippen, mit Fingerkuppen, deren Hornhaut spürbar ist. Ihr Rücken stößt an einen massigen Leib. Hinter ihren Augen explodiert etwas. Eine Stichflamme panischer Angst. Gleich darauf schwinden ihr alle Kräfte, ihr Körper wird formlos, und sie sinkt völlig schlapp, ohne den geringsten Fluchtreflex oder irgendeine Gegenwehr, auf die großen, harten, regennassen Betonplatten nieder.

»He, Emilia, was tust du denn?« Verzögert dringt die Stimme durch die rauschende Stille. Es ist Frank, der oft genug an ihrem Esstisch gesessen hat. Ein Spaßvogel, ohne Zweifel, und in der Tat mit diesem an Kreuzkümmel erinnernden Körpergeruch behaftet, wie sie sich nun erinnert, sie hätte ihn daran erkennen können.

»Machst du jetzt Spaß?«, ruft er von oben. Es vergehen bestimmt zwanzig Sekunden, in denen die Nässe von den Fliesen in den Stoff ihrer Kleidung kriecht und in denen sie sich fragt, ob sie ihre Reaktion mit irgendeiner Bemerkung ungeschehen machen könnte. Dann erst findet Emilia Muskeln und Knochen wieder und richtet sich auf.

»Ich wollte dich nicht erschrecken.« Er stammelt noch weiter, dass er sie necken wollte, dass sie raten sollte, wer er ist, das kenne sie doch, oder? Mit seinen borstigen schwarzen Augenbrauen hat er etwas Verwildertes an sich. Er sagt, es sei ein spontaner Impuls gewesen, wie unpassend der war, sei ihm erst aufgegangen, als es schon zu spät gewesen sei. Sie nimmt eine Zigarette von ihm an, lässt sich Feuer geben, inhaliert. Sie rauchen und blicken auf den Platz hinunter, auf die Leute in Ausgehlaune, die zwischen den Straßenbahnen umherwuseln. Emilia fröstelt in ihrer dünnen Bluse.

»Ist ja gemeingefährlich«, sagt sie, »solche Impulse zu haben.«

Er beteuert erneut, dass es ihm leidtue.

Wenn du das noch einmal sagst, denkt Emilia, hau ich dir eine runter.

Im Spiegel sieht sie, wie blass sie ist. Sie stützt sich auf das Waschbecken. Aus ihrem Kehlkopf kriecht die Erinnerung an einen Sommerabend empor, eine Erinnerung, die sie mit Erfolg in einen fernen Winkel ihres Systems verbannt und in den Schlafmodus versetzt hatte. Die Tür hinter ihr öffnet sich und schnatternd kommen sie herein, junge Mädchen. Sie verzieht sich auf eine Toilette, schließt behutsam ab. Dann lässt sie ihre Tasche fallen, fasst sich an den Hals und ringt nach Luft. Anschließend drückt sie die Hände flach auf die kalten Wandkacheln. Sie atmet wieder, aber zu weit oben, zu schnell. Gleich muss sie sich übergeben. Sie setzt sich. Keine Angst, du stirbst nicht, der Atem selbst bringt dich in Atemnot, du bist in Sicherheit, im Heute. Auf der anderen Seite der Tür erörtern die Mädchen die Frage, ob sie noch auf eine Party gehen sollen oder nicht. Ihre Stimmen sind hell und melodiös. Während sie ihnen lauscht, bekommt sie ihren Atem allmählich unter Kontrolle. Sie klatscht sich wieder Blut in die Wangen. Erst als der Toilettenvorraum leer ist, verlässt sie ihre Kabine. Sie geht durch den halbrunden Flur mit den Schauspielerporträts zurück und die weich ausgelegte Treppe hinunter, wo sie auf halber Höhe an Frank vorbeikommt. Er unterhält sich mit jemandem und fasst dabei mit beiden Händen um seinen Schlips wie um eine Rettungsleine. Er zwinkert ihr zu, als teilten sie ein Geheimnis. Im Foyer unten legt jemand Musik auf. Tanzmusik, aber niemand tanzt. Sie holt sich noch ein Bier. Bruch kommt zu ihr und schiebt die Hand unter ihre Bluse auf ihren nackten Rücken.

»Hier bist du! Die ganze Zeit schon? Ich hab dich gesucht.«

»Hier bin ich, Bruch. Hier bin ich schon die ganze Zeit.«

»Lass uns gehen, bevor irgendwer anfängt, Brando zu imitieren.« Er reicht ihr den Mantel, sie leert ihr Glas. Sie gehen hinaus, es regnet wieder.

»An Marlon Brando scheiden sich die Geister«, sagt Bruch unter dem Vordach. »Es gibt Menschen, die ihm nicht widerstehen können, wenn er nach Stella ruft, und es gibt Menschen, die das sehr wohl können.« Sie biegen um die Ecke. Er bleibt vor einem Lokal stehen. Da haben sie früher schon einmal gesessen. Sie weiß noch, dass er damals ein grünes Oberhemd trug. Sie weiß noch, dass sie sich an dem Tag die Haare hatte schneiden lassen, denn sie fasste sich immerzu an den Kopf, um zu fühlen, wie kurz sie waren. Sie weiß noch, wie deutlich sie spürte, dass sie ihn liebte. Sie weiß noch, dass sie ein Glas Wein trank, bevor sie den Schwangerschaftstest, auf den sie kurz davor gepinkelt hatte, unter der Serviette hervorholte. Und dass Bruch weinen musste. Vor Rührung. Da war sie drauf und dran gewesen, ihm alles zu erzählen.

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