„Wo ist Ihre Geburtsurkunde? Geben Sie her!“
Geburtsurkunde?
In keinem Informationsblatt zur Antragstellung einer Aufenthaltsgenehmigung stand etwas von Geburtsurkunde. Ich war sprachlos. Normalerweise bin ich nicht auf den Mund gefallen und hätte angefangen zu argumentieren. Aber ich hatte erkannt, dass Herr Patil seinen eigenen Gesetzen folgt, völlig unabhängig von allen Visabestimmungen dieser Welt.
„Gehen Sie und kommen Sie wieder.“ Sagte er unvermittelt in meine Verwirrung hinein.
„Ich gehe und komme wieder“, antwortete ich automatisch, packte meinen Kram zusammen und verschwand.
Wie alle anderen vor mir verließ ich den Raum in gebückter Haltung und mit sorgenvoll-wütendem Gesicht.
Jetzt brauchte ich erst mal ein anständiges Mittagessen. Mit einem „Ato“, einer Scooter-Riksha mit gelbem Aufbau für die Passagiere, ließ ich mich in eine Ess-Bude fahren, die mir der Fahrer empfohlen hatte. Sie lag gegenüber dem Arbeitsamt, wo gerade Sprechchöre ihre Forderungen nach mehr Rechten in Fabriken in die Gegend schrien. Der Ato-Fahrer kam mit rein und wurde für das Abliefern der Touristin mit einem Tee belohnt. In Pondicherry sind die Fahrer in der Regel nicht unverschämt, weil es da so viele Europäer gibt, die seit Jahren in der Stadt und Umgebung leben und sich mit den Preisen gut auskennen. Man einigt sich ohne große Diskussionen auf einen bestimmten Betrag, und los geht die Fahrt.
In dem kleinen Lokal mit seinen drei nicht ganz sauberen Tischen verdrückte ich ein Masala Dossai, das ist eine Art Pfannkuchen aus Kichererbsenmehl mit Kartoffelfüllung, vom Bananenblatt. Mein Hirn befand sich in Schockstarre, und ich war nicht in der Lage, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Daran änderten selbst drei Gläser Tee nichts. Alles, was ich wusste, war, dass ich nicht wusste, was zu tun war. Trotz Mittagshitze ging ich zu Fuß den kurzen Weg die Uferpromenade am Meer entlang zum Ashram-Gästehaus. Am selben Morgen hatte ich mich, frisch aus Deutschland angekommen, dort einquartiert. Mein Zimmer war spartanisch möbliert, die beiden Betten waren durch ein fest in die Wand einzementiertes Nachtkästchen getrennt. Dadurch wird konsequent verhindert, dass es bei einem Paar zum Letzten kommt. Sri Aurobindos Vision, dass Kinder durch reine Lichtenergie gezeugt werden, würde erst in naher Zukunft Wirklichkeit werden. Bis dahin musste man das Zusammenschieben von Betten verhindern.
Ich trat auf den Balkon und schaute kurz aufs Meer, das mich so grell blendete, dass ich für einen Moment nur silber-gleißende Sternchen sah. Das dunkle Grün des Rasens im Park vor dem Gästehaus gab mir die Sicht zurück, so dass ich die Mäuerchen, die Bänkchen, die künstlich aufgeschütteten Hügelchen, die weißen Figürchen, die Blümchen, die Brünnchen und Kanälchen mehr und mehr ausmachen konnte. Mir hat mal eine Ashramitin erzählt, dass man bei der Aufnahme in den Ashram von einem Komitee gefragt wird, wie man sich vorstellt, für die spirituelle Gemeinschaft tätig werden zu wollen. Man darf seine Interessen, Fähigkeiten und Neigungen darlegen und sagen, was man am liebsten tun würde, jetzt, wo einem alle Möglichkeiten offenstehen. Was einem auch immer vorschwebt in seiner großen Zukunftsvision für das neue Leben, genau das darf man dann nicht machen. So lernt man Demut und Gehorsam. Derjenige, der dazu verdonnert worden war, den Gästehaus-Park zu gestalten, wäre vielleicht lieber Bäcker geworden oder Schneider. Der Park jedenfalls ist Ausdruck der Demut eines zutiefst gekränkten Menschen, dem seine nicht ganz unterdrückte Rachsucht all die Geschmacklosigkeiten eingegeben hat, die den Betrachter ästhetische Qualen erleiden lassen. Ich stellte mir einen verzweifelt „Alles, nur nicht den Park gestalten!!!“ rufenden Aspiranten vor und wohlwollend blickende Ashramitinnen und Ashramiten, die maskenhaft lächelnd mit leiser und freundlicher Stimme säuseln: „Du bist der Richtige für den Park, Du musst noch viel Demut in dein Herz einkehren lassen, mein Bruder.“ Und der Demut-gelernt- Habende macht sich an die Arbeit. Tag und Nacht gibt er sich die allergrößte Mühe mit der Gestaltung des Parks, indem er einen Entwurf nach dem anderen ersinnt und schließlich sich für den erbärmlichsten entscheidet. Aus lauter frustriert-boshafter Demut.
Der Jetlag überkam mich, und ich legte mich auf eines der Betten. Der verklärt-alkoholselig dreinblickende Sri Aurobindo und die uralte Mira Alfassa, die Insider „die Mutter“ nennen, blickten über allem wachend auf mich herab. Diese Übergriffigkeit beendete ich, indem ich das Leintuch vom Nachbarbett über die fenstergroßen Fotorahmen der Portraits hängte. Die Mutter kam dabei zu Fall, blieb jedoch unverletzt. Ich legte das Bild mit dem Gesicht nach unten auf den Schreibtisch und wünschte mir inständig, der Himmel oder mein Schöpfer oder wer das alles hier lenkt, möge verhüten, dass ich je so alt werde wie die Mutter und dann auch so aussehen muss. Bevor ich einschlief, dachte ich an Manuel und die Kinder. Es war geplant, dass sie in einer Woche nachkommen. In der Zwischenzeit sollte ich, das Organisationsgenie, ein wohliges und heimeliges Nestchen für meine Familie bauen, alle bürokratischen Hindernisse aus dem Weg räumen und ansonsten dafür sorgen, dass Indien unser aller Traumland bleibt.
Die kurze Rast im Gästehaus brachte meine Lebensgeister wieder in Schwung, und ich wusste, was ich als nächstes tun musste: um vier Uhr zum PICA fahren und Dr. Murugan bitten, die beglaubigte Kopie der Affiliation zu unterschreiben, die er ja sowieso schon auf dem Original, das in München war, unterschrieben hatte. Eine Angelegenheit von einer, meinen Dank mitgerechnet, maximal zehn Sekunden. Ich rechnete mir beim Immigration Office doch noch eine Chance aus, wenn ich mit einem Dokument antanzte, auf dem jetzt also die Original(!)-Bestätigung des Generalkonsulats in München und obendrein die Original(!)-Unterschrift des PICA-Leiters standen. Vielleicht ließe Herr Patil ja morgen bei besserer Laune mit sich reden, so dass ich die Geburtsurkunde nachreichen und das Ganze von einem indischen Notar bestätigen lassen könnte. Kurz zog ich sogar in Erwägung, Mr. Patil einen gut gefüllten Umschlag zu überreichen. Die Wahrscheinlichkeit jedoch, dass ich mich dumm anstellen würde, war hoch. Schließlich war ich in diesen Dingen gänzlich unerfahren. Wenn die Sache schiefgehen sollte, käme ich ins Gefängnis, und dieses Risiko war mir dann doch zu groß. Und außerdem und vor allem: Korruption ist was Böses, und sowas darf man nicht machen. Blöderweise kann so eine Aufenthaltsgenehmigung ausschließlich vom Immigration Office des künftigen Wohnortes ausgestellt werden, sonst hätte ich in irgendeiner anderen Stadt mein Glück versuchen können. Allerdings gab es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Beamten dort anders drauf waren.
Punkt vier Uhr war ich im PICA. Ich hoffte, Dr. Konrad Maier zu treffen, dem ich die Affiliation zu verdanken hatte. Im Südasien-Institut in Heidelberg hatte man mir gesagt, dass in Pondicherry seit vielen Jahren ein deutscher Indologe arbeite. Ein echter, einer, der es mit Texten und nicht mit Menschen zu tun hat. Schriftlich hatte ich Kontakt zu Dr. Maier aufgenommen, und er hatte mir freundlicherweise die Affiliation besorgt.
Gleich im Eingangsbereich saß ein weißer, blasser junger Mann hinter Bergen von Büchern und tippte eifrig in eine vorsintflutliche Schreibmaschine.
„Guten Tag“, sagte ich auf Deutsch. „Herr Maier?“
Die schlacksige Gestalt erhob sich, kam mit einem Lächeln auf mich zu und begrüßte mich mit einem kräftigen und angenehmen Händedruck. Als allererstes bedankte ich mich von ganzem, wirklich von ganzem Herzen für die Affiliation, ohne die mein Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft nicht genehmigt worden wäre. Dann erzählte ich ihm in aller Ausführlichkeit von meiner Pleite mit dem verweigerten Stempel. Ich bräuchte dringend die Unterschrift von seinem Chef, Herrn Dr. Murugan. Ja, der sei da. Dr. Maier verschwand in einem Büro drei Treppenstufen höher. Irgendwie erinnerte mich das alles an das Immigration Office. Auch Messingbuchstaben an der Türe, diesmal „Dr. Murugan“. Ich solle kurz warten, der Chef hätte gleich Zeit für mich und würde das Dokument selbstverständlich unterschreiben, richtete mir Dr. Maier aus.
Читать дальше