Herrlich übrigens, dass man hier so gemütlich mit dem Schiff kreuz und quer durch die Stadt fahren kann. Da ist man mittendrin und doch ganz für sich, nicht wahr? Ja sicher, abgesehen von den anderen zweihundert Leuten auf dem Dampfer natürlich. Aber jedenfalls abgeschottet von dem ganzen Rummel da draußen.
Bitte? Ja, ich nehme noch einen Kaffee. Und Sie? Einen Cappuccino für den Herrn. Ich lade Sie ein. Doch, klare Sache, schließlich sitze ich quasi an Ihrem Tisch, da will man sich doch erkenntlich zeigen. Na sehen Sie.
Wo? Stimmt, da blitzt es schon wieder blau. Das könnte die Kolonne von vorhin sein. Erkennen Sie, was da los ist?
Nein, keine freie Sicht, das ist ärgerlich. Der Bus steht im Weg. Ganz schön sperrig, diese Doppelstockdinger. Hoffentlich liegt da keiner drunter.
Wird einem aber ganz schön was geboten fürs Geld, nicht wahr?
Ah, das ging ja fix. Danke, Fräulein. Ja, zusammen. Bitte schön, stimmt so. Ihnen auch noch einen schönen Tag.
Angenehm, wenn das Personal so nett ist, nicht wahr? Dann bleibt man doch gleich viel gelassener, allem Trubel zum Trotz.
Bitte? Den Akzent hatte ich gar nicht bemerkt. Dann ist die nette junge Dame also gar nicht von hier. Verstehe.
Darf ich Ihnen den Zucker reichen? Einmal oder zwei? Bitte schön. Ja, zum Wohl. Prost Kaffee.
Auf die Landeier? Wie Sie wollen.
Bei mir zu Hause, in Leer, kann man übrigens auch mit dem Schiff durch die Stadt fahren. Na ja, ist mehr als Boot als ein Schiff, und man bekommt auch nicht besonders viel zu sehen, aber immerhin. Hafenpromenade, Altstadt, Museumshafen, Yachtanleger – und die Schrotthalden der Firma Heeren. Na, jedenfalls kann man sich gemütlich herumschippern lassen.
Apropos …
Wie? Ach, das fiel mir nur so ein, wegen der Blaulichter. Bei uns gab es nämlich letztes Jahr einen Mordfall. Ziemlich mysteriös, zuerst jedenfalls.
Nein, nicht auf dem Schiff. Es gibt da so ein Restaurant, Schöne Aussichten, direkt am Hafen, gleich neben dem Gebäude des Rudervereins. Das Rundfahrtboot fährt dicht dran vorbei. Dort ist es passiert.
Eine Serviererin. Sehr auffällige Erscheinung. Groß, gut gebaut, lange dunkle Haare, immer topmodisch gekleidet und super geschminkt. Sagte man jedenfalls. Ich selber bin ja nicht für so viel Fassadenschmuck. Bitte? Klar, die Geschmäcker sind verschieden. Gut möglich, dass Ihnen die Frau gefallen hätte. Thekla hieß sie übrigens. Gab einen ziemlich Wirbel, als sie tot aufgefunden wurde.
Mordmotive fand man jede Menge. Die Frau ist, wie soll ich sagen, recht großzügig in der Vergabe ihrer Gunst gewesen – jedenfalls, solange diese Großzügigkeit auch großzügig vergolten wurde. Die Kerle waren hinter ihr her wie die Fliegen hinterm Kuhfladen, obwohl sie eine richtige Kratzbürste war. Ein Vokabular hatte die – deftiger als jeder Bierkutscher. Und sie machte reichlich davon Gebrauch.
Klar, dass sich jeder ihrer Verehrer für einzigartig gehalten hatte. Thekla aber hielt mehr von hoher Betriebsauslastung und fließenden Übergängen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Extensive statt intensive Bewirtschaftung. So wurde denn ihr Mörder zunächst auch unter ihren geprellten Galanen vermutet. Ziemlich pikant, wer so alles dazu gehörte! Letztlich aber konnte doch jeder ein Alibi vorweisen. Also Sackgasse für die Kripo.
Vermutlich wäre der Täter nie ermittelt worden, wenn er nicht freiwillig gestanden hätte.
Nein, verhaftet wurde er nicht. Er war nämlich schon tot.
Nur die Ruhe, ich erkläre es Ihnen ja. Eines schönen Tages also erschien ein Notar bei der Leeraner Kriminalpolizei, fragte sich zum 1. Kommissariat durch und händigte dessen Leiter, einem gewissen Hauptkommissar Stahnke, einen versiegelten Umschlag aus. Auftragsgemäß, wie es sein Klient testamentarisch festgelegt hatte. Darin – ganz genau, darin war das Geständnis.
Und nicht nur eins.
Ja, schockiert waren wir alle. Der Tote – also der Täter, der tote Täter – war so ein harmlos wirkender Mann gewesen. Viele hatten ihn gekannt, aber kaum jemand hatte ihn wirklich beachtet. Und genau das war denn auch ein wesentlicher Teil seines Motivs.
Wie viele? Fünf insgesamt. Zwei dieser Fälle waren bis dahin nicht einmal als Morde erkannt worden, man war von natürlichem Ableben ausgegangen, und zwischen den drei anderen hatte man keinerlei Zusammenhang vermutet. Ein Finanzbeamter, eine Politesse, ein Journalist, ein Rechtsanwalt und, wie schon gesagt, eine Serviererin. Allesamt umgebracht von einem kleinen, zurückhaltenden, unauffälligen pensionierten Angestellten. Sein Name war übrigens Hermann Müller. Unauffälliger geht es kaum noch.
Gestorben ist er an Krebs. Magenkrebs. Schon mehrmals operiert, mehr ging nicht. Sein Arzt hatte ihm noch drei Monate gegeben und ihm geraten, sich für diesen Zeitraum etwas Kreatives vorzunehmen. Seinem Lebensrest noch einen letzten Sinn zu geben, sozusagen. Tja, und das hat er dann ja auch getan.
Der Arzt hatte sich übrigens ein wenig verkalkuliert. Es waren nicht drei Monate, sondern fünf. Stellen Sie sich vor, der Mann hätte noch ein ganzes Jahr gelebt! Nicht auszudenken.
Ach ja, das Motiv. Wie soll ich sagen – Dünnhäutigkeit? Empfindsamkeit? Am ehesten wohl eine ausgeprägte Aversion gegen Unhöflichkeit.
Tja, dieser Stahnke hat es zunächst auch nicht glauben wollen. Aber wenn der Müller es doch selber so aufgeschrieben hat! Jedes seiner fünf Opfer hat ihn einmal heftig beleidigt. Die meisten wahrscheinlich ganz unbewusst, mehr so gewohnheitsmäßig. Weil sie eben so drauf waren. Sie kennen doch sicher auch diese hemdsärmeligen Ellbogentypen, die einen schon so angucken, als würden sie nur nach der schwachen Stelle suchen, in die sie dann reinpieken können? Nein? Merkwürdig. Berlin ist doch voll davon.
Hermann Müller war einer von denen, die sich niemals wehren. Alles runterschlucken, in sich hineinfressen. Wer weiß, vielleicht hatte sein Magenkrebs ja auch damit zu tun.
Nach jenem Gespräch mit seinem Arzt jedenfalls hat sich Müller hingesetzt und eine Liste gemacht. Wer ihn wann, wo und wie beleidigt hatte. Eine lange Liste, das kann ich Ihnen sagen! Unglaublich, wer da alles draufstand. Die meisten davon können froh sein, dass sich Müllers Arzt nicht noch mehr verkalkuliert hat.
Hoffentlich ist meiner etwas präziser in seinen Prognosen.
Wie? Nein, Sie haben sich nicht verhört. Mag ja sein, dass ich noch recht rosig und gesund aussehe, aber das täuscht leider. Deshalb bin ich ja hier in Berlin, hier gibt es erstklassige Spezialisten. Wunderheiler sind das aber auch nicht. Auf sechs Monate soll ich mich einstellen, heißt es. Tja, nicht zu ändern.
Aber ich werde etwas machen aus der Zeit, das habe ich mir fest vorgenommen. So wie Müller. Aber mit etwas mehr Power. Von wegen einer pro Monat! Hier in Berlin sind doch ganz andere Quoten möglich. Und hier gibt es auch keinen Hauptkommissar Stahnke. Der ist ja nun vorgewarnt und würde mir vielleicht draufkommen. Aber er ist ja zum Glück für Berlin nicht zuständig.
Sie entschuldigen, wenn ich Sie jetzt allein lasse? Es gibt Momente, da sollte man ganz für sich sein. Reden können Sie ja ohnehin nicht mehr, wie ich feststelle. Aber keine Sorge, ein Weilchen dauert es schon noch. Sie sollen ja etwas davon haben.
Na dann: Auf die Landeier! Und jetzt weiß ich auch, was mir vorhin nicht einfallen wollte: Auf die Landeier in der Legebatterie.
Verstehen Sie nicht? Dachte ich mir. Ist aber auch egal. Bald.
Ach, der Zuckerstreuer. Den nehme ich mit. Das ist nämlich meiner.
Den werde ich noch brauchen.
Das Nageln der Dachdecker
Stahnke wartete das Ende der Salve ab, dann duckte er sich und hastete durch den Flur, seinen Unterarm vorm Gesicht, um sich vor umherfliegenden Splittern zu schützen, schlüpfte in die Küche und schlug die Tür hinter sich zu. Tief durchatmend wappnete er sich für die nächste Serie ohrenbetäubender Knalle, die auch nicht lang auf sich warten ließ.
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