Stanislaw von Weidenheim missfiel der geschwätzige Ton des Assistenten. „Möglich“, bemerkte er ungerührt und entließ den Mann durch einen ernsten Blick, woraufhin dieser ein wenig verunsichert zu seinen Pflichten zurückkehrte. Dass ausgerechnet ein Abgesandter des Kaiserreichs ohne offizielle Eskorte in die Fünf Provinzen reist, ist ungewöhnlich , überlegte der Magier als er sich auf dem ihm angebotenen Holzstuhl niederließ. Wollte er lieber schnell oder unerkannt reisen? Der Stuhl war hart, ungemütlich und drückte am Gesäß.
Das Büro der Senatsvorsitzenden befand sich wie der Senatssaal im Wächter der Freiheit , jedoch ein Stockwerk darüber. Eigentlich hatte Stanislaw für diesen Tag einen persönlichen Termin mit Stefanie geplant, um sich über ihre Motive klarzuwerden. Nach der Senatssitzung am gestrigen Abend hatte er die halbe Nacht damit verbracht, die bisherigen Informationen im Geist zusammenzufügen. Obwohl er noch keine endgültigen Schlüsse ziehen wollte, war er sich sicher, dass Stefanie insgeheim ein Ziel verfolgte, welches weder ihm noch den Senat bekannt war. Stanislaw wusste, dass seine ehemalige Schülerin als Vorsitzende des Senates das wirtschaftliche Wachstum Freistadts konsequent vorantrieb und dabei die sozialen Probleme, welche mit Wachstum und Industrialisierung einhergingen, wissentlich in Kauf nahm. Ein Umstand, der ihn durchaus störte.
Doch dementgegen suchte Stefanie den durchaus vernünftigen Dialog mit den Großgrundbesitzern im Süden, dessen Verhältnis zu Freistadt über lange Zeit durch Misstrauen und Neid geprägt worden war. Dabei war die Südliche Provinz nicht nur ein unentbehrlicher Lieferant von Lebensmitteln, sondern auch eine Quelle steten Nachschubs an Arbeitskraft. Zwar lebte der Großteil der Bevölkerung dort noch immer in Unfreiheit, doch selbst dies wollte Stefanie nun ändern. Sie wollte die Bauern aus ihrer Leibeigenschaft befreien! Es ist paradox … Was hat Stefanie nur vor? Und wofür braucht sie auf einmal so viele Menschen? Für die Fabriken? Wohl kaum … Freistadt platzt jetzt schon aus allen Nähten.
Seine Skepsis gegenüber der Idee eines natürlich Guten in Menschen, Alben oder Zwergen, hinderte Stanislaw daran zu glauben, dass die Senatsvorsitzende die Bauernbefreiung aus Liebe zu den Leibeigenen auf ihre Agenda gesetzt hatte. Selbst aus wirtschaftlicher Perspektive ergab der Plan für den Magier kein Sinn – war sogar schädlich für die Zukunft Freistadts. Erstens würde neue Zuwanderung den Bedarf an Lebensmitteln erneut in die Höhe treiben. Und diese waren aktuell schon dermaßen knapp, dass bereits Kinder im Äußeren Ring verhungerten. Sicherlich , spielte Stanislaw das Szenario durch, Freistadt könnte einfach mehr Nahrung in der Südlichen Provinz ordern. Doch wer sollte die anbauen? Die Bauern? Die wären ja zum Großteil hier. Zweitens besaß Freistadt bereits die nötigen Arbeitskräfte für die Zukunft , flocht er den Pfaden weiter, diese waren nur noch nicht alt genug, um in den Fabriken mitzuarbeiten. Im Zuge der letzten Dekade ist die Stadtbevölkerung dermaßen rasant gewachsen, dass jeder Bauer aus dem Süden, der heute als Unterstützung nach Freistadt kam, morgen ein Problem war. Der Magier war sich bewusst, dass viele der Senatsmitglieder zu kurzsichtig für diese Problematik waren. Doch war ihm ebenso klar, dass dies bei Stefanie nicht der Fall war. Aber warum dann die Bauernbefreiung? An dieser Stelle blieb Stanislaw hängen. Immer wieder. Ihm fehlte schlichtweg ein finales Puzzleteil, ein entscheidendes Detail, um das Gesamtbild zu erkennen. Unzufrieden lehnte er sich in dem ungemütlichen Holzstuhl zurück und begann von vorne.
„Sie ist mit dem Abgesandten alleine in ihrem Büro?“, schallte es wütend den langen Flur entlang. Stanislaw kannte die Stimme. Sie gehörte Major Stein. „Benutzt denn niemand in diesem Scheißladen seinen Verstand?“
„Aber Major Stein …“, erklang stockend die eingeschüchterte Stimme des Assistenten.
„Nix aber! Da kommt ein Abgesandter des Kaisers, ohne Begleitung und mitten in der Nacht - klammheimlich - nach Freistadt, und Ihnen fällt nichts Besseres ein, als ihn alleine mit der Senatsvorsitzenden in einen Raum zu setzten?“ Die energischen Stiefeltritte Steins drangen trotz des weichen Teppichbodens im Flur bis zu Stanislaw. Stein zürnte lautstark weiter: „Was ist, wenn es sich um einen Attentäter handelt? Da können Sie ihm ja gleich ein Messer geben!“ Seinem Grollen folgend, kam der Major um die Ecke des Flurs gerauscht und bewegte sich mit wuchtigen Schritten auf das Büro der Senatsvorsitzenden zu. Sein Ledermantel, der ihn als Mitglied der Stadtwache auswies, wehte hinter ihm her. Er machte nicht den Anschein, als wolle er auf einem der Stühle vor dem Büro geduldig Platz nehmen.
Hinter dem Leibwächter bemerkte der Assistent vorwurfsvoll: „Sie waren ja nicht vor Ort, sondern lieber bei der Morgeninspektion der Stadtwache.“ Das schmächtige Kerlchen hatte nicht einmal ausgesprochen, da hatte Stein bereits auf dem Absatz Kehrt gemacht. Es sah so aus, als wolle der Assistent weglaufen, wusste jedoch nicht wohin.
„Was haben Sie da gerade gesagt?“ Major Stein baute sich in voller Größe vor seinem Gegenüber auf. Er vibrierte vor Zorn. „Tun Sie kleiner Bürokratenarsch mir den Gefallen und wiederholen Sie das!“
Stille. Dann leise, aber entschieden, vom Assistenten: „Sie waren nicht hier, sondern bei der Morgeninspektion der Stadtwache.“
Das ist mutig , gestand Stanislaw und rückte amüsiert seine Manschettenknöpfe zurecht. Ich hätte mir das zweimal überlegt. Ohne die beiden direkt anzublicken, lehnte er sich interessiert zur Seite. Dieser Stuhl war wirklich die Hölle.
„Ich war nicht bei der Morgeninspektion, Sie Pfeife!“, stellte Stein unmissverständlich klar. „Ich musste in eines der Reviere, weil gestern Nacht zwei Stadtwachen halb totgeschlagen wurden. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie in der Zwischenzeit einen Tag der offenen Tür bei der Senatsvorsitzenden ausrichten!“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, machte der Major erneut Kehrt und setzte seinen Weg zum Büro von Stefanie Seidel fort. Der Assistent trollte sich schnellstmöglich vom Flur.
„Guten Morgen, Herr Major“, begrüßte Stanislaw den Herannahenden nüchtern und erhob sich von seinem Platz.
„Guten Morgen, Herr Professor“, kam es ebenso neutral und beherrscht zurück. „Bereit?“
Stanislaw schloss mit flinken Fingern den obersten Knopf seines Sakkos. „Bereit.“ Er schätzte die professionelle Art des Majors.
Der Leibwächter wollte gerade an der lederverkleideten Bürotür klopfen, als diese aufgerissen wurde. Instinktiv machte Stanislaw einen Schritt zurück und verstärkte den Griff um seinen Gehstock, an dessen Spitze der rötlich funkelnde Pyrop bedrohlich zu schimmern begann. Auch der Major reagierte reflexartig, doch machte dieser im Gegensatz zu Stanislaw einen Schritt nach vorne und griff dabei blitzschnell unter seinen Ledermantel.
„Wenn das Ihr letztes Wort ist, wehrte Senatsvorsitzende, werde ich es der Kaiserin so überbringen müssen.“ Der Abgesandte stand verärgert vor der geöffneten Tür. „Die Kaiserin hegte die Hoffnung, Freistadt sei in dieser Hinsicht kooperativer.“
„Bitte verstehen Sie meine Entscheidung nicht als Absage an das Kaiserreich“, erklärte Stefanie Seidel höflich. „Es ist nun einmal eine unserer Grundprinzipien, dass alle Maschinen – und auch die dazugehörigen Pläne und Skizzen – unverrückbares Eigentum des jeweiligen Besitzers sind. Selbst wenn ich Ihnen derartiges als Senatsvorsitzende geben wollte, dürfte ich es nicht.“
„Auch dies werde ich der Kaiserin berichten“, nahm der Abgesandte den Beschwichtigungsversuch ungerührt zur Kenntnis und wandte sich den beiden Menschen auf der anderen Seite des Türrahmens zu. Abschätzig musterte er beide.
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