Da er nicht vorhatte, ein Vorzeige-FDJler oder gar FDJ-Sekretär zu werden, wanderte die Einladung des FDJ-Hochschulsekretärs Hetzel, einem Oberassistenten des Germanistischen Instituts, in den leeren Papierkorb neben dem Schreibtisch.
Wolfgang entschied sich an diesem verkaterten Morgen dafür, sein erstes Studienjahr mit einem Lyrikseminar am Nachmittag und nicht mit einer FDJ-Pflichtveranstaltung am Vormittag zu beginnen.
Obwohl sich Wolfgang nach dem Abend in der „Weintanne“ geschworen hatte, sich nie wieder zu besaufen, folgte schon bald das nächste Besäufnis: die erste Seminargruppen-Fete im Mädchenheim.
Die drei Doppelstockbetten, die sonst den meisten Platz im Raum einnahmen, waren fachmännisch zerlegt worden, und mit den sechs Matratzen hatten die Mädchen drei Zimmerecken gemütlich ausgelegt. Auf dem einzigen Tisch, der an die Wand in Türnähe geschoben worden war, stand ein großer Eimer mit einem Gebräu aus Prima-Sprit und Kirschlikör, und aus dem Lautsprecher eines alten Schallplattenspielers war die Stimme von Esther Ofarim zu hören, die unentwegt ihre Hits sang.
Die Mädchen und Jungen der zwölfköpfigen Seminargruppe hockten grüppchenweise auf den Matratzen, diskutierten laut und kämpften dabei gegen die laute Musik an.
„Jetzt wird nicht mehr herumgesülzt. Jetzt wird getanzt“, sagte Edda und griff nach Wolfgang, der neben ihr lag, und zerrte ihn zu den Klängen von „Ich werde Sehnsucht haben, Sehnsucht nach dir“ in die Mitte des Zimmers, und beim Tanzen und Knutschen unter der dreiarmigen Stubenlampe, die mit rotem Krepp-Papier verhangen war, bahnten sich kurze Lieben und lebenslange Freundschaften an.
Bisher wusste Wolfgang nur, dass Edda aus Potsdam stammte und nach dem Abitur als Hilfskraft im Krankenhaus gearbeitet hatte. Und er wusste, was er sah, wenn er ihr im Seminar gegenüber saß: Sie hatte schulterlanges Haar, katzengrüne Augen, ein ovales Gesicht, eine hohe, breite Stirn und einen schmallippigen, breiten Mund. Und an ihrem Mienenspiel war leicht abzulesen, ob sie mit dem Gesagten einverstanden war oder nicht.
Während Edda und Wolfgang engumschlungen unter der rot verkleideten Stubenlampe tanzten, sang Doris, der das Gebräu aus Prima-Sprit und Kirschlikör mächtig in den Kopf gestiegen war, völlig zugedröhnt: „Du bist fortgegangen, so hat alles angefangen.“
Daraufhin löste sich Edda plötzlich aus Wolfgangs Umarmung, warf ihre grau-grünen, ausgelatschten Pumps, die ihr beim Tanzen lästig geworden waren, durch das Zimmer, und nur noch in Strümpfen tanzend, meinte sie beschwipst zu Wolfgang, der sie erstaunt ansah: „Ich halte es mit der Greco. Ich bin, wie ich bin.“
Obwohl Edda kein Wort Französisch verstand, geschweige denn sprechen konnte, hatte sie ein Faible für französische Literatur und französische Chansons.
Und so schrie sie, den Tanz mit Wolfgang unterbrechend, allein in der Mitte des Zimmers stehend: „Kann denn keiner von euch Flaschen Französisch? Ich will endlich wissen, wonach ich tanze.“
„Wenn ihr einen Moment still seid, kann ich euch den Text übersetzen“, sagte der schwule Nunweiler, der keinen Tropfen Alkohol angerührt hatte und das Betrunkensein der anderen verabscheute.
Während sich die Schallplatte, auf der Charles Aznavour zu hören war, langsam und knackend drehte, übersetzte der hoch sensible Nunweiler: „Was ist aus denen geworden, die die Freiheit verteidigen wollten? Sie hatten ihre Kinder, ihre Eltern gern, und erst recht den Wein und die Liebe. Aber ihnen fehlte die Freiheit. Doch sie waren zu schwach: Als sie aufbrachen, standen ihnen nach wenigen Schritten Polizisten mit Pistolen gegenüber.“
Obwohl alle ziemlich besoffen waren, hatte nach der Nunweilerschen Übersetzung von Aznavours „Liberté, Liberté“ keiner mehr Lust zu tanzen. Irgendwie war die Stimmung hin. Nur Edda konnte von den französischen Chansons nicht genug bekommen und legte von der Greco „Die toten Seelen der Dichter“ auf.
Der dicke Höhn, der von Wolfgangs Gedichten wusste, sagte, ganz heiser vom Schreien: „Auch wir haben eine Dichterseele unter uns“ und prostete Wolfgang mit dem Sprit-Kirschlikör-Gebräu zu.
„Du?“, sagte Edda überrascht. Sie ging zum Plattenspieler und machte ihn aus.
„Was also hat uns Wolfgang Bruckner zu sagen?“, grölte der dicke Höhn, der von der Armee her das Saufen gewohnt war. „Dein Auftritt, Poet“, brüllte Höhn. Und da Wolfgang schon ziemlich voll war, fiel es ihm nicht schwer, einige seiner Gedichte vorzutragen.
Eines hieß: „Verlange nicht, dich zu vergessen“ und war einer zigeunerhaft aussehenden Schallplattenverkäuferin gewidmet, die Wolfgang als Oberschüler platonisch geliebt hatte.
Edda gefielen Wolfgangs Gedichte, und Wolfgang fand Edda so aufreizend schön, dass er nicht müde wurde, sie auf dem Weg vom Mädchenheim in die Weigelstraße alle paar Meter abzuknutschen.
Als er das erste Mal Eddas Zimmer in der Weigelstraße betrat, war es draußen ungemütlich kalt. Es war ein verdammt trister Abend, und Edda war froh, dass Wolfgang sie besuchte.
Edda hatte einen weiten, grünen, sackähnlichen Strickpullover an. Auf dem Tisch stand eine Kanne Tee und auf dem Sofa lag eine Katze.
Draußen plätscherte der Regen vom Dach auf die Terrasse unterm Fenster, und Edda schien in einem Stimmungstief zu stecken.
„Bist du auch der Meinung von Doris, dass ich die Heidlern zu stark attackiert habe und zu boshaft zu ihr war?“, fragte sie etwas schuldbewusst und spielte auf ihren Ausbruch im Philosophieseminar „Dialektischer Materialismus“ an.
„Vielleicht bist du etwas zu weit gegangen, als du sagtest, die Heidlern sollte erst einmal Sartres ‚Existentialismus ist ein Humanismus‘ lesen, damit sie wisse, worüber sie überhaupt rede“, sagte Wolfgang. Und er erinnerte sich, dass dieser Bemerkung, mit der sich Edda den Unmut der kleinen, bebrillten Philosophin zugezogen hatte, bereits ein heftiger, lautstark geführter Wortwechsel vorausgegangen war.
Edda hatte der Heidlern, die das Seminar leitete, vehement widersprochen, als diese den Existentialismus als subjektiven Idealismus abzutun versuchte. Edda vertrat, aufsässig, wie sie war, die Meinung, der Existentialismus sei ein Marxismus, bei dem der Mensch und nicht die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Geschichte im Mittelpunkt der Betrachtung stünden.
„War es falsch, was ich gesagt habe?“, wollte Edda wissen.
„Etwas diplomatischer hättest du schon sein können.“
„Diplomatie ist nicht meine Stärke“, sagte Edda. Sie war eine extreme Verfechterin des Existentialismus, hielt Camus‘ „Pest“ und Sartres „Der Ekel“ für zwei der wichtigsten Bücher, die man unbedingt gelesen haben musste, und tendierte in allem, was sie tat, zum Underground. Deshalb verwunderte es nicht, dass sie Wolfgang eine Taschenbuch-Ausgabe aus einem Westverlag über die Beat-Generation zeigte, die sie gerade las.
Wolfgang jedoch hatte noch nichts von Allen Ginsberg oder Jack Kerouac gehört, und die Beatniks, wie diese Schriftsteller genannt wurden, waren für ihn böhmische Dörfer.
Edda hielt das für eine unverzeihliche Wissenslücke, und sie beschrieb umfassend, was es mit den sogenannten Beatniks auf sich habe, die Ende der 50er Jahre die Gesellschaft und den Literaturbetrieb in Amerika aufgemischt hätten. „Sie rebellierten gegen das satte, selbstzufriedene Leben der Spießer und empfanden die gesellschaftlichen Verhältnisse als einengend und steril“, sagte sie, „und was ich an ihnen so mag, ist ihre Vorliebe für soziale Außenseiter und sozial Gestrandete.“
Als Vagabund habe Kerouac die USA durchstreift, „und die Menschen, die er beschreibt, sind immer auf der Suche nach ihrem Platz im Leben und nach ihrer inneren Selbstbestimmung. Das macht ‚On the Road‘, Kerouacs Sensationserfolg von 1957, so lesenswert und wertvoll für mich.“ Von der DDR-Gegenwartsliteratur, die sie lesen mussten, hielt Edda hingegen so gut wie nichts. „Christa Wolfs ‚Geteilter Himmel‘ mag ja noch gehen“, sagte sie. „Aber Kants ‚Aula‘, ich bitte dich.“
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