Antoni van Leeuwenhoek, der als Erster Bakterien beschrieb.
Was hätten uns wohl unsere Jäger-und-Sammler-Vorfahren zu diesem Thema berichtet? Dass sie Zahnbürsten brauchten? Dass sie Mundgeruch oder Zahnschmerzen hatten? Wahrscheinlich nicht. Wie Sie gleich sehen werden, wurde der Einfluss der Nahrung auf die Zahngesundheit menschheitsgeschichtlich erst relativ spät entdeckt. Zuvor galt die Annahme, dass der Zahnverfall völlig normal sei und er den Menschen nun mal sein Leben lang begleite. Aber wurden nach dieser Entdeckung Gegenmaßnahmen eingeleitet? Sollte etwa auf Zucker verzichten werden? Schauen wir, wie es weitergeht.
Ludwig der XIV. durfte und konnte wahrscheinlich nicht lächeln.
Ein wirklich wissenschaftlicher Durchbruch gelang dem amerikanischen Zahnarzt Willoughby Dayton Miller. Seit 1882 veröffentlichte er mehrere wissenschaftliche Studien, in denen er seine sogenannte chemoparasitäre Theorie darlegte. Miller zufolge verstoffwechselten bestimmte Bakterien in der Mundhöhle Kohlenhydrate zu Säuren, die wiederum die Zahnhartsubstanz auflösten. Seine Beobachtungen erfolgten zu den Zeiten des großen Infektiologen Robert Koch, bei dem Miller auch damals in Berlin Medizin studierte. Robert Koch entdeckte, dass die Tuberkulose durch das Mycobacterium tuberculosis ausgelöst wurde, und stellte infolge seiner Forschungen die sogenannten Koch’schen Postulate auf. Nach diesen muss, grob gesprochen, das Zufügen eines Bakteriums in einen Organismus eine bestimmte Krankheit hervorrufen und die Elimination desselben Keims diese Krankheit wieder beenden, wie es zum Beispiel bei der Tuberkulose der Fall ist. Die Koch’schen Postulate entsprechen heute immer noch den Anforderungen an (Infektions-)Krankheiten und Bakterien.
Miller und seine Zeitgenossen hätten durch die Entdeckung, dass orale Bakterien aus vergärbaren Kohlenhydraten (v. a. Zucker) Säuren produzieren, eigentlich logische Schlüsse ziehen können. Dann hätten sie nicht nur die Bakterien, sondern auch die verstoffwechselbaren Kohlenhydrate kritisch unter die Lupe genommen und sich fragen können: Kann so etwas wie Zucker, das die Zähne kaputt macht, für den Körper überhaupt gut sein? Miller entschied sich für den Weg, die Bakterien weiter als die Schuldigen zu betrachten, und entwickelte mit seinen Kollegen eine desinfizierende Zahnpasta 3. Diesem Weg folgen wir heute weitestgehend immer noch: die chemomechanische Desinfektion der Zähne (oder auch Zähneputzen mit Zahnpasta genannt).
Wie ist Millers Weg zu verstehen? Konsumierte er selbst viel Zucker? War die verlockende Süßigkeit in der Gesellschaft zu stark verankert? Was sagten die Ärzte dazu? War Zucker für den Organismus höchst notwendig und von daher Karies nun mal ein begleitendes Übel? Wie auch alle Fragen lauten könnten, dem Zucker war das egal. Er begann durch Kolonialisierung und moderne Landwirtschaft jetzt sogar seinen eigentlichen Siegeszug. Die bereits angelaufene Industrialisierung katapultierte das »weiße Gold« als Massenware in alle gesellschaftliche Schichten.
Die Bakterien am Pranger – oder Robert Kochs Vermächtnis
Die Tatsache, dass Miller seine Theorie im Zeitalter Robert Kochs beschrieb, prägt uns bis heute. So wurden andere Einflüsse, wie die Ernährung oder der Lifestyle, stark in den Hintergrund gedrängt. Denn nach der Logik der Infektionstheorie können prinzipiell drei große Wege eingeschlagen werden: Vermeiden der Infektion, Impfung und anti-infektiöses Vorgehen (wie unter anderem mit Antibiotika). Diese Erkenntnisse haben Millionen von Menschen das Leben gerettet und den damaligen häufigsten Todesursachen, wie zum Beispiel den Durchfallerkrankungen, den Schrecken genommen. Allerdings greifen sie bei den Problemen des 21. Jh. wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes und Übergewicht nicht mehr.
Sie finden natürlich alle drei Prinzipien der »infektiösen Betrachtung« auch in der zahnmedizinischen Wissenschaft. So geisterte lange Zeit die Meldung umher, Mütter sollten auf keinen Fall den Schnuller ihres Babys ablutschen, da sie dadurch ihre Bakterien aus dem Speichel auf die Kleinen übertrugen. Impfungen gegen Karieskeime finden sich ebenfalls noch in der wissenschaftlichen Debatte 4. Und das anti-infektiöse Vorgehen ist das derzeitige A und O der zahnmedizinischen Prophylaxe: Zähneputzen mit Zahnpasta, Fluoridpräparate in jeglicher Form, Mundspüllösungen, Antiseptika, antibakterielle Peptide, Silberionen, Antibiotika. Und das alles funktioniert sogar – zumindest einigermaßen und eben nur so lang, wie diese antibakteriellen Maßnahmen durchgeführt werden, also notgedrungen ein Leben lang. Es sei denn, es wird auf die Ernährung eingegangen.
Sind Karies und Parodontitis wirklich Infektionskrankheiten?
Zurück ins 19. Jahrhundert. Interessanterweise lehrte zur Zeit Robert Kochs auch ein französischer Mikrobiologe in Paris, nämlich Antoine Béchamp, der bereits mit Louis Pasteur, dem damals bekanntesten Mikrobiologen Frankreichs, nicht immer einer Meinung war. Aufgrund von Pasteur wird auch heute noch Kuhmilch »pasteurisiert«, also hoch erhitzt, und auch die Schutzimpfung geht auf ihn zurück. Pasteur war also ein Vollblut-Infektiologe. Béchamp prägte hingegen die Betrachtung des Milieus, in welchem sich die Bakterien befanden. Im Gegensatz zu Pasteur, dem nicht genug Bakterien getötet werden konnten, postulierte Béchamp, dass es auch gesunde Bakterien gebe und sie grundlegend zum menschlichen Organismus gehörten. Welche Arten von Bakterien, dies sei dabei davon abhängig, in welcher Umgebung (Milieu) sie sich befänden. Béchamp konnte noch nichts davon wissen, dass Bakterien diesen Planeten bereits Milliarden Jahre vor Homo sapiens besiedelten. Wären sie so gefährlich gewesen, hätte sich unsere Spezies niemals entwickeln können.
Ernste Gesichter, große Gedanken (v. l. n. r.): Robert Koch, Willoughby Miller, Antoine Béchamp.
Die »ökologische Betrachtung« Béchamps war in der Mikrobiologie nach damaligen Vorstellungen wirklich revolutionär. Sie können sich das auch analog zur Soziologie vorstellen: Gehen Sie mal zum Campen und Kanufahren in die Wälder. Würden Sie da auf einen Anzugträger mit Aktenkoffer treffen? Wohl kaum. In der Frankfurter Innenstadt werden Sie aber Probleme haben, einen gummistiefeltragenden Wildlife-Menschen mit einer Angel unterm Arm zu finden. Die Umgebung selektiert ihre hauptsächlichen Besucher. Oder andersherum: Menschen suchen sich die zu ihnen passende Umgebung aus.
Der Zusammenhang zwischen Bakterien und den Erkrankungen Karies und Parodontitis bescherte den Forschern und Zahnärzten ziemliche Schwierigkeiten. Konnte es sich tatsächlich um Infektionserkrankungen handeln? Auf lange Sicht scheiterten alle Versuche, die Erkrankungen mit Antibiotika, Impfungen oder Infektionsprophylaxe anzugehen. Der amerikanische Zahnarzt Thomas Hill war 1946 noch ganz angetan von seiner Antibiotika-Zahnpasta, für die er eine große Zukunft sah. 1956 bescheinigte er der Zahnpasta allerdings nur eine geringe Wirksamkeit – nach einem Versuch mit einem Jahr Daueranwendung! – und stellte fest, dass die Laktobazillen sich im Zahnbelag (Plaque) nicht dauerhaft verringerten 5. Aus heutiger Sicht betrachtet wurden die Bakterien höchstwahrscheinlich einfach nur resistent gegen das Penicillin. Wie gesagt, Impfen wird immer noch diskutiert 6.
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