Seit ich denken kann, liebe ich Witze. Irene verabscheute Witze, noch mehr Witze-Erzähler. Das verstehe ich: Meistens sind sie humorlos und haben kein bisschen Sinn für Situationskomik. Wenn man sich nicht über ihren Witz, dessen Pointe schon nach dem zweiten Satz klar ist, das Zäpfchen aus dem Gesicht lacht, fragen sie womöglich noch: „Ach, Sie haben wohl keinen Humor?“
Lieber lese ich deshalb Witze und habe ‚Witze‘ sogar als Lesezeichen gespeichert. Da gefallen mir dann die unsympathischsten Sachen, die ich ungern erzählt bekäme wie: „Ich weiß gar nicht, welches Kind meine Frau meint, das ich angeblich unfair behandle? Thomas, Anton oder das fette hässliche?“
Ich war Einzelkind, darum finde ich das vielleicht lustig. Es ist boshaft und betrifft mich nicht. Das meiste, was Menschen so daherreden, kann man als Palaver bezeichnen. Ich will meinen Frieden damit machen und die Gesamtheit all meiner Texte über das Unterwegssein von Mai bis Oktober 2016 einsichtig als ‚Palaver‘ bezeichnen, ein etwas netteres Wort für ‚Geschwätz‘. Das ist nicht kokett gemeint, sondern demütig, und das nicht ironisch, sondern aufrichtig.
Ein Palaver dient dazu, einander kennenzulernen und abzuschätzen, bevor man zur Sache kommt. In einigen Kulturen ist das Palaver als überflüssig verpönt, in anderen unerlässlich, was mir viel mehr einleuchtet. Wie jemand auf die Mitteilung „Gestern Mittag hat es aber ziemlich geregnet“ reagiert, 87ist doch hochinteressant und gibt viel Aufschluss über die Persönlichkeit des Gesprächspartners, also darüber, wie er zu behandeln ist. Sagt er: „Ja, ziemlich“ oder „Ach, das hab ich gar nicht bemerkt, ich hatte blöderweise meine Munition schon verschossen und war so damit beschäftigt, den Kassierer am Bankschalter irgendwie mit den Fäusten totzukriegen, damit er mich später bei einer Gegenüberstellung nicht verpfeifen würde, weil er nun mal mein Gesicht gesehen hatte, nachdem mir die Strumpfhose vom Kopf gerutscht war, dass ich gar nicht auf die Bewölkung geachtet habe.“? Vielleicht sagt er auch: „Solch oberflächlicher Quatsch wie Wetter interessiert mich überhaupt nicht. Gehen wir ficken?“
Man kann das Palaver auch mit sich selbst machen, das führt natürlich zu den allerbesten Bonmots im Dialog, so wie auch Schachspielen gegen sich selbst im Film gern als Stilmittel genutzt wird, um darzustellen, wie gewitzt der Mörder ist, ohne ihm für Zuschauer unverständliche Texte in den Mund legen zu müssen. Im Allgemeinen kommt es ja nicht darauf an, was man erzählt, sondern wie man es erzählt, denn wer wirklich etwas zu sagen hat, wählt ein anderes Medium und ein anderes Forum, das noch weniger unterhaltsam ist.
Hanno (1952)
Hanno (1972)
88Günter Neumann war in den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts ein bekannter Kabarettist. Er schrieb irrsinnig witzige Texte. Mit meinen Eltern hockte ich vor dem Radio und lernte, wie Komik erzeugt wird. Mein Vater konnte das auch sehr gut, und Pali war ein Meister darin. Aber was ist von all dem übrig? Wir haben gelacht. Bis ans Ende meines Lebens werde ich mich an unser Lachen erinnern; die Anlässe habe ich vergessen. Das muss reichen, reicht aber nicht allen. Der unerschütterliche Glaube an posthumen Jubel hilft manchem Kultur-Erzeuger dabei, weiterzumachen. Von Tag zu Tag wird dieser Glaube allerdings unrealistischer, wenn man seine Augen auf die Wirklichkeit, also das Display, richtet: Wer mir heute nicht applaudiert, ist morgen tot. Und wenn nicht, zieht er sich morgen etwas Neues rein. Trotzdem ist immer wieder jeder Film schön, in dem Nachkommen in den Nebenrollen in der letzten Kammer in einer morschen Kiste irgendwas entdecken, und dann tritt als Rückblende erstmals der Hauptdarsteller auf, falls es sich dabei – wie meistens – um Meryl Streep handelt, ist er eine Frau. Nun wird die Vergangenheit aufgerollt und rührt zu Tränen. Vergangenheit ist eben erst zu Ende, wenn niemand mehr von ihr weiß.
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Silke und Rafał waren zurück. Sie hatten betrachtet, was von der glorreichen Herrschaft Venedigs übrig geblieben war und was in den Schaufenstern der Gegenwart auslag. Die Turmuhr schlug eins, ihre kürzeste Stundenmitteilung, die Tauben stritten um einen Fetzen Brot, und Silke holte ihr Portemonnaie aus der Handtasche.
Wir fuhren denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Schon bei kurzen Ausflügen mag ich das nicht. Bei langen Reisen wäre es ein dramaturgisch unverzeihlicher Fehler. In meiner Familie hieß das: ‚Auf hinzu‘ sind wir so gegangen, gefahren, geflogen, ‚auf rückzu‘ haben wir es so gemacht. Ein Trost war, dass wir nun schon wussten, welche beiden Restaurants uns am Wegesrand erwarteten.
Ich war sehr für das auf dem Hinweg zweite, also jetzt erste. Irrtümer zugeben, das kann ich. Bei näherer Betrachtung war Totalverzicht noch attraktiver als dieser Schuppen. Dafür machte beim Nichtvorbeifahren, sondern Anhalten das erste Lokal, also jetzt zweite, einen kompetenten Eindruck. Der wurde durch die Anzahl der Gäste bestätigt. Gern hätte ich, nachdem ich die vielen Stufen vom Parkplatz hinauf zur Gaststätte bewältigt hatte, am Rand der Terrasse mit Blick nach unten gesessen, da war aber alles besetzt. Wir gesellten uns also, leicht zögernd, an einen der langen Tische, an dem bereits drei slowenische Schurken saßen, die bei Wein und Langustini den nächsten Einbruch ausheckten. Ich wähnte bereits die Nationalgalerie von Ljubljana (österreichisch ‚Laibach‘) in Gefahr, aber als dann auch wir an sehr wohlschmeckenden Meerestieren knabberten, hatte ich durchschaut, dass es sich bei ihrer Unterhaltung um einen besonders abgefahrenen italienischen Dialekt – also nicht Verbrecher, sondern Touristen – handelte.
Ein stimmungsvolles Essen, das nicht nach Messer und Gabel, sondern nach Fingern in Tomatensud schmeckte. Der Schatten tat gut, das Haus, vor dem wir saßen, gab mit seinem in Säulen gefassten Portal eine gediegene Kulisse ab. Ein weltabgeschiedener Platz, mitten im Leben. Silke griff zur Börse. Wir 90hatten zwar Euros, aber nicht genügend Bildung, um zu wissen, dass der Euro sowieso die Währung in Slowenien ist. Schließlich zahlte ich doch mit Bankkarte, eine der wenigen Verrichtungen, die ich noch schaffe, auch wenn Silke sicherheitshalber immer einen kleinen Zettel dabei hat, auf dem meine Geheimzahlen stehen: Man weiß ja nie, wann und wo der Verstand endgültig aussetzt.
Beschwingt fuhren wir zurück nach Italien. Meine Beschwingtheit war auf den Wein zurückzuführen und musste im Hotelzimmer auskuriert werden. Silkes und Rafałs Beschwingtheit durfte sich beim Shoppen in der Triester Altstadt Bahn brechen.
Eine Weile lang legte ich mich aufs Bett. Wozu? Schlafen konnte ich nicht. Das Zimmer war in Ordnung. Die geschlossenen Gardinen machten ihm nichts aus. Mir schon. Ich öffnete die Flügeltür und setzte mich auf den Balkon. Er hatte wohl Anspruch auf die Bezeichnung ‚Terrasse‘. Die Geräusche von der nahen Fahrbahn waren gar nicht so schlimm. Die Sinne gewöhnen sich schnell, um die ihnen aufgedrängten Zumutungen zu ertragen, doch gleichzeitig fiebern sie nach Neuem. Ich habe mal geschrieben, ich sei der Welt unterdrüssig. So vieles wollte ich noch erleben! Nun sehe ich von meiner Terrasse auf den pulsierenden Verkehr, weder beteiligt noch abseits; andere tun für mich, wozu ich nicht mehr imstande bin. Ich merke: Ich bin scheinselbstständig.
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