Der Charakter einer Geschäftsfirma wurde von Russell offiziell zugegeben. So stellte er in seinen „Schriftstudien“ jeweils im Anhang seine Gesellschaft mit folgenden Worten vor: „ Wacht-Turm Bibel- und Traktat-Gesellschaft. Das ist der Name einer Geschäftsfirma, die sich mit der Herausgabe von wichtigen religiösen Büchern und Zeitschriften und anderen nützlichen Hilfsmitteln zum Bibelstudium befasst“ (vgl. Twisselmann 1995, S. 16).
Es sollte bis zum Jahr 1944 dauern, dass das Aktienwesen abgeschafft und als unvereinbar mit der „theokratischen Ordnung“ bezeichnet wurde (vgl. ebd., S. 21 f.). Dennoch erwirtschaftet die Wachtturm-Gesellschaft weiterhin hohe Gewinne, die freilich – soweit erkennbar – alle dem weiteren Aufbau der Organisation zugute kommen. Über die heutige finanzielle Struktur des „Wirtschaftsunternehmens Wachtturm-Bibel- und Traktat-Gesellschaft“ (WTG) schreibt Klaus-Dieter Pape:
„Die Einkünfte kommen aus Spenden, aber in viel größerem Umfang aus den Subskriptionsrechten, die die WTG-Inc. von den einzelnen Länderorganisationen verlangt. Die Beträge für diese Rechte sind aber in Wirklichkeit der Gewinn, den die einzelnen Länder aus den Buchverkäufen erzielen und dann an das Hauptbüro in New York überweisen … Bei den Länderorganisationen ist zu unterscheiden, ob sie eine Corporation nach amerikanischem Recht sind, wie der Länderzweig in der Schweiz, oder ein gemeinnütziger Verein, wie in Deutschland … Selbst ein gemeinnütziger Verein kann z. B. über Spenden oder wirtschaftliche Aktivitäten, wie Buch- oder Zeitschriftenverkauf Gewinn machen. Das ist erlaubt. Sie müssen nur dem Zweck der Satzung entsprechen und demgemäß verwendet werden“ (Informationen Nr. 2 der „Christlichen Dienste“, ACV, Mai 1994, S. 2 f.).
Doch zurück zu Russell. Sein Hauptwerk waren die unter der Bezeichnung Schriftstudien (bis 1904: „Millennial Dawn“ – „Millennium-Tagesanbruch“) bekanntgewordenen sechs Bücher mit den programmatischen Titeln: „Der (göttliche) Plan der Zeitalter“ (1886), „Die Zeit ist herbeigekommen“ (1889), „Dein Königreich komme!“ (1890), „Der Tag der Rache“ (später: „Der Krieg von Harmagedon“) (1897), „Die Versöhnung von Gott und dem Menschen“ (1899), „Die neue Schöpfung“ (1904). Der siebte Band „Das vollendete Geheimnis“, der 1917 posthum erschien, stammt in seiner vorliegenden Form zum großen Teil nicht von Russell (dazu unten mehr). Die sechs ersten Bände erreichten allein bis zum Todesjahr Russells, 1916, eine Auflage von zusammen ungefähr 16 Millionen Exemplaren, zumindest nach den Angaben der Wachtturm-Gesellschaft.
Um die Jahrhundertwende war die Zahl der Anhänger Russells bei etwa 2. 500 angekommen. Heute (2019) gibt es weltweit ca. 8,5 Millionen Zeugen Jehovas. In Deutschland fassten Russells Anhänger seit 1903 Fuß, als der erste „Pilgrim“, Otto Koetitz, von Wuppertal-Elberfeld aus mit seiner Missionstätigkeit begann. Die Zahl der in Deutschland lebenden Zeugen Jehovas beträgt heute über 170.000. Russells Botschaft hat also, wenn auch in manchen Punkten wesentlich verändert, eine enorme Ausbreitung erfahren.
Streitigkeiten und Skandale
Diesem äußeren Erfolg stehen die Schattenseiten in seinem Leben gegenüber. Wir wenden uns nun den Streitigkeiten mit ehemaligen Anhängern, mit seiner Frau und seinen Gegnern zu.
Bereits in den Jahren nach 1892 gab es Auseinandersetzungen mit vier führenden Mitgliedern der Wachtturm-Gesellschaft (E. Bryan, S. D. Rogers, J. B. Adamson und O. v. Zech), die an Lehrpunkten Russells Kritik übten und ihm vorwarfen, er habe zuviel Einfluss. Dieser antwortete mit der heftigen Broschüre Aufdeckung einer Verschwörung (1894).
1911 wandten sich der Vizepräsident der Wachtturm-Gesellschaft, J. H. Giesey, sein Privatsekretär A. E. Williamson und der Zweigstellenleiter E. C. Hennings aus ähnlichen Gründen gegen ihn. Sie kritisierten seinen dogmatisch-autoritären Führungsstil und behaupteten, er habe „Schwestern gestreichelt“. Russell reagierte maßlos, indem er ihre Abspaltung von ihm mit der Abspaltung von Christus gleichsetzte:
„Nebeneinander, in denselben Gemeinschaften mit den demütigen, gläubigen, geweihten Heiligen – in denselben kleinen Versammlungen zusammen mit denen, welche aus der Knechtschaft Babylons entflohen sind, in denselben Haushaltungen und oft an demselben Tisch des Herrn ist eine Klasse von Personen entwickelt worden, welche eigenliebig (selbstsüchtig) sind, habsüchtig (nach Ehre und Ansehen und Ruhm bei Menschen), prahlerisch … hochmütig … Da sie sich nicht dem Haupt des Leibes , Christo Jesu, unterwerfen, streben sie danach, selbst das Haupt neuer Parteien zu werden“ („Wachtturm“ 1911, S. 42 ff.).
Hinzu kamen die peinlichen Auseinandersetzungen mit seiner eigenen Ehefrau seit der Mitte der 90er Jahre sowie mit seinen kirchlichen Gegnern. Maria Frances Russell, geb. Ackley, fühlte sich – wie ihr Mann – als eine prophetische Persönlichkeit und ihm ebenbürtig. Sie verlangte breites Mitspracherecht und Mitautorschaft bei der Gestaltung des Wachtturms. 1896 entzog Charles Taze Russell ihr die Mitherausgeberschaft. Daraufhin verließ sie ihn im Jahre 1897. Sechs Jahre lebten sie getrennt, bis Maria 1903 die Scheidungsklage einreichte und es 1906 nach langwierigen Verhandlungen und großem Aufsehen in der Öffentlichkeit zur Scheidung kam (laut Hellmund, o S.; und Hutten 1982, S. 82). Nach den Angaben der Wachtturm-Gesellschaft hingegen lautete das „1908“ verkündete Urteil „nicht auf Ehescheidung“, sondern „auf Trennung von Tisch und Bett sowie auf Zahlung von Unterhalt“ (JZ, S. 645). Russells Ehe war jedenfalls total gescheitert. Seine Frau äußerte über ihn unter anderem, er sei nicht nur der „gute Knecht“ nach Matthäus 24, 45-51, als der er von seinen Anhängern bezeichnet wurde, sondern auch der unnütze Knecht – und sie müsse deshalb seine Stelle einnehmen. Sie warf ihm „Egoismus, Herrschsucht und ein unsauberes Verhalten im Umgang mit anderen Frauen“ vor (vgl. Stroup 1945, S. 9 ff.; Metzger 1953, S. 65 f.; Hutten 1982, S. 82).
Auch mit der „Geistlichkeit“ oder den Religionisten, wie Russell die Vertreter der Kirchen abfällig nannte, führte er viele Auseinandersetzungen. Nachdem er sich anfangs mit seiner Kirchenkritik noch zurückgehalten hatte und daher sogar in manchen Kirchen predigen durfte, änderte sich dies zunehmend in den achtziger Jahren, als er einen schärferen Ton anschlug. 1881 verkündete er, dass die nominelle Kirche von dem unsichtbar gegenwärtigen Christus 1878 verworfen worden sei. Nun fühlte er sich berufen, die wahren Anhänger Jehovas aus den Kirchen herauszuführen. Diese Angriffe blieben nicht ohne Antwort. Insbesondere sein selbstangemaßter Status als „Pastor“ wurde kritisch hinterfragt, so etwa von dem Baptistenpastor J. J. Ross.
1912 hatte Ross eine Schrift mit dem herausfordernden Titel Einige Tatsachen über den selbsternannten ´Pastor` Charles T. Russell veröffentlicht, die zu einem Gerichtsprozess Anlass gab. Ross kennzeichnet darin Russells System als „unvernünftig, unwissenschaftlich, unbiblisch, antichristlich und eine bedauernswerte Verkehrung des Evangeliums von Gottes geliebtem Sohn“ (S. 7). Ferner warf er Russell im Blick auf seine selbstangemaßte Position vor: „„Er hat niemals eine höhere Schule besucht, weiß vergleichsweise nichts über Philosophie, systematische oder historische Theologie und ist ein totaler Ignorant hinsichtlich der alten Sprachen“ (S. 3 f.).
1913 fand in Ontario der Prozess zwischen Ross und Russell statt, den Russell verlor. Nach diesem Prozess schrieb Ross noch eine Schrift mit dem Titel:Einige Tatsachen und noch mehr Tatsachen über den selbsternannten ´Pastor` Charles T. Russell. Darin berichtet Ross über Einzelheiten dieses Prozesses, die ein denkbar schlechtes Licht auf Russells Charakter werfen. So hat Russell nachweislich Falschaussagen hinsichtlich seiner Ordination und Sprachkenntnisse gemacht.
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