Gefangenschaft
Bald trat für die „Ernsten Bibelforscher“ ein weiteres dramatisches Ereignis ein. Seit dem 6. April 1917 befanden sich die Vereinigten Staaten von Amerika im Kriegszustand . Gemäß ihrer Weltanschauung galten Rutherford und seine Freunde als radikale Pazifisten – oder richtiger: als „Neutralisten“ ohne Parteinahme für eine bestimmte Kriegspartei. Ihre Lehre war in ihren Auswirkungen jedoch höchst politisch, weil die Wachtturm-Gesellschaft beanspruchte, das wahre Königreich Gottes auf Erden zu verkörpern. Alle anderen politischen und kirchlichen Systeme wurden faktisch abgelehnt. Diese Ansicht wurde später zwar abgemildert, aber in der Zeit des Ersten Weltkriegs wurde sie noch mit voller Vehemenz vertreten – bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein.
Deshalb mussten die Zeugen Jehovas in verschiedenen Ländern schwere Verfolgungen erleiden, etwa während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland oder in kommunistischen Diktaturen. Aber auch in demokratischen Staaten wie den USA galt ihre Position gegenüber dem Staat als unerwünscht – vor allem in Krisensituationen wie dem Ersten Weltkrieg, wo es darum ging, möglichst jeden Mann für dem Kampf zu mobilisieren.
Eine maßlose Polemik gegen Staat und Kirchen fand sich nun in dem gerade 1917 veröffentlichten Band 7 der Schriftstudien. Dort wurde beispielsweise immer wieder betont, sämtliche irdischen Reiche würden 1917 oder 1918 ihr Ende finden. Am 28. Februar 1918 sagte Rutherford in einem öffentlichen Vortrag in Los Angeles:
„Als Klasse sind die Geistlichen gemäß der Schrift von allen Menschen auf der Erde die verwerflichsten wegen des großen Krieges, der die Menschheit jetzt plagt. 1.500 Jahre lang haben sie dem Volk die satanische Lehre des Gottesgnadentums der Könige beigebracht. Sie haben Politik und Religion, Kirche und Staat vermischt, haben sich als illoyal gegenüber ihrem von Gott verliehenen Vorrecht erwiesen, die Botschaft vom messianischen Königreich zu verkündigen, und haben sich dazu hergegeben, die Herrscher in ihrem Glauben zu bestärken, dass der König von Gottes Gnaden regiert und daher alles, was er tut, richtig ist.“
Unter Rutherfords Leitung war die Wachtturm-Gesellschaft bestrebt, „der ganzen Welt die Unrechtmäßigkeit der religiösen Systeme und ihre unheilige Verbindung mit den verderbten Regierungen der gegenwärtigen bösen Ordnung der Dinge zu zeigen“ (JZ, S. 648).
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Sowohl die amerikanische Regierung als auch die Vertreter der Kirchen waren über diese kirchen- und staatsfeindliche Antikriegspropaganda äußerst aufgebracht. Man ließ die Ernsten Bibelforscher genau beobachten. John Lord O`Brian, Sonderbeauftragter des Justizministers in Kriegsangelegenheiten, übernahm persönlich das Sammeln von Beweismaterial gegen sie. Am 7. Mai 1918 schließlich wurde der Haftbefehl gegen Joseph Franklin Rutherford und sieben seiner engsten Mitarbeiter erlassen. Die Anklage lautete auf Verschwörung als Verletzung des Spionagegesetzes, Anstiftung zum Ungehorsam und zur Verweigerung der Dienstpflicht in den Streitkräften der USA.
Im Sommer 1918 wurden J. F. Rutherford, W. E. Van Amburgh, A. H. Macmillan, R. J. Martin, F. H. Robison, C. J. Woodworth und G. H. Fisher zu je viermal 20 Jahren und G. DeCecca zu viermal 10 Jahren Haft verurteilt und im Gefängnis von Atlanta/Georgia eingesperrt. Die heutigen Zeugen Jehovas weisen darauf hin, dass damit diese Männer „zu härteren Strafen verurteilt“ wurden „als der Mörder, dessen Schüsse den Ersten Weltkrieg auslösten“ (JZ, S. 653). Warum diese Härte der Strafe? Richter Harland B. Howe sagte vor der Urteilsverkündung:
„Nach Meinung des Gerichts stellt die religiöse Propaganda, für die diese Angeklagten energisch eingetreten sind und die sie im ganzen Land sowie unter unseren Verbündeten betrieben haben, eine größere Gefahr dar als eine ganze deutsche Division … Sie haben nicht nur die Rechtsvertreter der Regierung und den Nachrichtendienst der USA in Frage gestellt, sondern auch alle Diener der Kirchen angegriffen. Die Bestrafung sollte daher sehr streng sein“ (zitiert nach Macmillan 1957, S. 99).
Es war ein großes Glück für die Eingekerkerten, dass der Erste Weltkrieg bald zuende ging. Mit dem Ende des Krieges ließ auch das Kriegsfieber nach. Man dachte nun milder über die Verurteilten und ließ sie bereits am 25. März 1919 gegen eine Kaution frei , noch bevor eine Petition mit 700.000 Unterschriften der Regierung überreicht werden konnte, welche ihre Anhänger gesammelt hatten.
Während der Gefangenschaft Rutherfords hatte am 4. Januar 1919 eine Körperschaftsversammlung der Wachtturm-Gesellschaft in Pittsburgh/Pennsylvania stattgefunden. Dort war Rutherford mit überwältigender Mehrheit in seinem Amt als Präsident bestätigt worden. Offensichtlich hatte seine Abwesenheit, Gefangenschaft und Opferbereitschaft seine Popularität weiter erhöht. Die Chance, welche seine Gegner gewittert hatten, ihn in seiner Abwesenheit zu entmachten, zerschellte nun vollends an der ständig gewachsenen Zahl seiner Anhänger.
Von den Ernsten Bibelforschern zu den Zeugen Jehovas
Als Rutherford aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war, begann er sofort mit der Neustrukturierung der Wachtturm-Bewegung. Ein entscheidender Markstein hierfür war der Kongress im September 1919 in Cedar Point/Ohio. Die Bibelforscher sollten ermutigt und zu Taten angespornt werden. Eine neue Zeitschrift, die bei diesem Kongress vorgestellt wurde, trug den programmatischen Titel The Golden Age („Das Goldene Zeitalter“; ab 1937 „Trost“, seit 1946 „Erwachet!“).
1920 veröffentlichte Rutherford eine Schrift mit dem aufsehenerregenden Titel Millionen jetzt lebender Menschen werden niemals sterben . In dieser Schrift sagte er für 1925 die „Vollendung aller Dinge“ voraus, insbesondere „die Rückkehr der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob sowie der glaubenstreuen Propheten des Alten Bundes“ auf die Erde (S. 80). Rutherford schrieb:
„Auf das zuvor dargelegte Argument gestützt, dass also die alte Ordnung der Dinge, die alte Welt, zu Ende geht und daher verschwindet, und dass die neue Ordnung hereinbricht, und dass das Jahr 1925 die Auferweckung der treuen Überwinder des alten Bundes und den Beginn der Wiederherstellung markiert, ist es vernünftig zu schließen, dass Millionen jetzt auf Erden lebender Menschen im Jahre 1925 noch auf Erden sein werden. Sodann auf die Verheißungen, die in dem Worte Gottes niedergelegt sind, gestützt, müssen wir zu dem positiven und unbestreitbaren Schluss kommen, dass Millionen jetzt Lebender nie sterben werden“ (S. 88).
Als auch diese Prophezeiung auf das Jahr 1925 nicht eintraf, sagte Rutherford : „Ich habe mich lächerlich gemacht“ (engl. Originaltext: „I know I made an ass of myself“) („Wachtturm“ vom 25.12.1984, S. 26; zitiert nach: Franz 1991, S. 136). 1925 wird in „Wachtturm-Kreisen“ ähnlich wie 1914 als „Jahr der Prüfung“ bezeichnet – aus leicht erkennbaren Gründen. Rutherford selber verzichtete von da an auf ähnliche Festlegungen – was nicht ausschloss, dass seine Nachfolger später seinen Fehler wiederholten.
Unter den zahlreichen Neuerungen , die Rutherford einführte, war die grundlegende Verpflichtung jedes Bibelforschers zum Haus-zu-Haus-Dienst, die Errichtung eigener Rundfunk-Stationen, die Abschaffung vieler als „heidnisch“ geltender Bräuche und Feste (Kreuzsymbol, Weihnachten, Ostern, Geburtstag u.a.) und vor allem die Propagierung der immer sektiererische Züge annehmenden Bibelforscher als das neue Heilsvolk der „Zeugen Jehovas“, das nun an die Stelle des alttestamentlichen Gottesvolkes Israel, aber auch der christlichen Kirchen treten sollte. Unter Rutherford erlangten die Zeugen Jehovas im Wesentlichen ihr heutiges Gepräge.
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