Das dritte, was auffällt, ist die Einführung neuer Jahreszahlen in Band 7, insbesondere das Datum 1918 . Die „vierzigjährige Erntezeit“ bis zum Beginn der „Trübsal“ war von Russell aufgrund sogenannter „Parallelen der Heilszeitordnungen“ zwischen urchristlicher Zeit (ca. 30-70 n. Chr.) und Endzeit (1874-1914) behauptet worden. Nun fügten Rutherford und seine Mitarbeiter im 1917 veröffentlichten Band dreieinhalb Jahre zu diesen 40 Jahren hinzu und gelangten so zum Frühjahr 1918 als neuem, unmittelbar bevorstehendem Termin für das Eintreten der Bedrängnis und des „Falles Babylons“, also der Christenheit außerhalb der „Ernsten Bibelforscher“. Begründet wird dies damit, dass zwar 70 n. Chr. Jerusalem von den Römern zerstört worden sei, aber erst 73 n. Chr. der jüdische Aufstand niedergeschlagen wurde – also mit der parallelen Heilszeitordnung.
So wird in der Auslegung von Offenbarung 3,14 ausgeführt, die „Laodizäa-Epoche“ reiche „vom Herbst 1874 bis zum Frühling 1918, dreieinhalb Jahre der Vorbereitung und 40 Jahre Erntezeit“. Alles deute darauf hin, „dass der Frühling 1918 ein noch größeres Maß von Bedrängnis über die Christenheit bringen wird, als dies im Herbst des Jahres 1914 der Fall war“ (S. 65 und 69). Das Jahr 1918 brachte allerdings nicht „ein noch größeres Maß von Bedrängnis“, sondern das Ende des Ersten Weltkriegs und – zumindest für einige Jahre – Frieden. Auch hier war eine angemaßte Prophetie in das Gegenteil umgeschlagen.
Ebenfalls wegen der nicht eingetroffenen Prophezeiungen wurden in einer späteren deutschen Ausgabe von „Das vollendete Geheimnis“ manche Passagen aus dem amerikanischen Original falsch übersetzt . Eckhard von Süsskind hat in seiner sehr gründlichen Quellen-Untersuchung Zeugen Jehovas. Anspruch und Wirklichkeit der Wachtturm-Gesellschaft die Änderung oder Relativierung der Jahresangaben nachgewiesen, welche in der deutschen Ausgabe von „The Finished Mystery“ im Jahre 1925 vorgenommen wurde. An einigen Stellen wurde das Jahr 1918 einfach ausgelassen.
E. v. Süsskind resümiert:
„Die Passagen, die falsch übersetzt wurden, betreffen ausnahmslos Prophezeiungen, die sich auf das für 1918 erwartete Ende der Christenheit durch Aktionen der Arbeiter und Sozialisten, auf das für 1920 angekündigte Ende der Republiken und der Arbeiterschaft sowie auf die in dieser Zeit angeblich zunehmende Anarchie beziehen“ (S. 73).
Spaltungen
Wie kam es nun zur Entmachtung der für Rutherford unangenehmen Direktoren und anderen Oppositionellen? Hier war für Rutherford seine juristische Erfahrung hilfreich. Er fand formaljuristische Begründungen für deren Amtsenthebung. In einem Gespräch zwischen Rutherford und den vier widerspenstigen Direktoren wird seine Vorgehensweise deutlich. Rutherford sagte:
„Es ist euch entgangen, Brüder, … dass ihr alle vier Mitglieder der pennsylvanischen Körperschaft seid. Die Satzungen dieser Körperschaft besagen, dass ihr im Staate Pennsylvania gewählt werden müsst. Seid ihr dort gewählt worden?
Nein, antworteten sie.
Ihr wurdet im Staate New York gewählt. Wollt ihr nun streng sachlich werden, dann sage ich euch streng sachlich, dass ihr vor allem keine legalen Mitglieder der Körperschaft seid“ (zitiert nach Gebhard 1970, S. 105).
Hinzu kam, dass Rutherford ein Gesetz rückwirkend anwandte, das die jährliche Wiederwahl der Direktoren forderte. Da aber eine solche jährliche Wiederwahl nicht erfolgt war, sondern Russell die Direktoren auf Lebenszeit eingesetzt hatte, seien sie – so behauptete Rutherford – keine rechtmäßigen Mitglieder des Direktoriums. Johnson seinerseits bestritt, dass ein solches Gesetz rückwirkend angewandt werden könne, und fragte, ob dann nicht auch Rutherford zu Unrecht zum Präsidenten gewählt worden sei.
Nichtsdestotrotz konnte Rutherford aufgrund solcher formaler Versäumnisse die vier Direktoren entmachten. Nach ihrer Entlassung nahmen vier Männer seines Vertrauens ihre Stelle ein. Bei dieser Säuberungsaktion schlossen sich mehrere Dutzend leitende Mitarbeiter der Wachtturm-Gesellschaft den Oppositionellen an und mussten ebenfalls gehen. Auch in vielen Gemeinden kam es zu Unruhen und vielerorts auch zu Spaltungen.
Über Rutherfords Vorgehensweise bei der „Säuberungsaktion“ berichtet Johnson aus seiner Sicht folgendes:
„Er (Rutherford) befahl mir, das Bethel am gleichen Tag zu verlassen, die vier Direktoren sollten am folgenden Montag gehen. Meine respektvolle, oft wiederholte Bitte, vor der Familie eine Erklärung abgeben zu dürfen, wurde nicht erfüllt… Bruder Hirsch bat darum, einen Brief von Bruder Pierson vorlesen zu dürfen, in dem dieser schrieb, dass er Rutherfords Ausschluss der vier Brüder vom Direktorium nicht billigte und dass er treu zu dem alten Direktionsausschuss hielte. J. F. R. schrie förmlich, dass Bruder Johnsons ´Falschheit` daran schuld wäre, dass dieser Brief geschrieben wurde… Noch zorniger befahl er mir unter Androhung von gerichtlichen Schritten, das Bethel zu verlassen. Ich antwortete, dass ich den Direktionsausschuss wegen dieser Entscheidung angerufen hätte; und da ich den Ausschuss als amtierend betrachtete, wobei dieser das Recht habe, bei der Berufung Entscheidungen zu treffen, wartete ich nun auf diese Entscheidung; wenn mir der Ausschuss befehlen sollte, das Bethel zu verlassen, würde ich dies sofort tun. Auf diese Erwiderung hin verlor Rutherford alle Selbstbeherrschung. Um seinen Befehl durchzusetzen, stürzte er sich auf mich und schrie: ´Du verlässt dieses Haus`. Er packte mich am Arm, so dass ich fast hingefallen wäre“ (zitiert nach Rogerson 1969, S. 49).
Daraufhin verließ Johnson die Zentrale der Wachtturm-Gesellschaft. Doch die Oppositionellen gaben sich noch nicht geschlagen. Rutherford hatte den entlassenen Direktoren ehrenvolle, aber einflusslose Posten als „Pilgerbrüder“ angeboten, um sein Gesicht zu wahren. Dieses Angebot wurde von diesen selbstverständlich abgelehnt. Sie schürten weithin Unruhe. Im Sommer 1917 waren die meisten Versammlungen weltweit gespalten. In dieser Zeit des Machtkampfes erfolgte die entscheidende Umstrukturierung der Wachtturm-Gesellschaft, die vorher und nachher nicht in diesem Maße vorgenommen worden war.
Noch zweimal versuchten die Gegner Rutherfords, das Ruder an sich zu reißen, doch ohne Erfolg. Bei der Hauptversammlung im August 1917 in Boston übernahm Rutherford die Diskussionsleitung und überging einfach die Wortmeldungen seiner Opponenten. Bei der Körperschaftsversammlung der Pennsylvania-Gesellschaft im Januar 1918 hatte Rutherford schon längst die Kontrolle über die Medien seiner Organisation übernommen und die meisten Mitglieder für sich gewonnen. Kein Opponent wurde in den Direktionsausschuss gewählt. Die Sache war entschieden.
Der Zerfall war nun nicht mehr aufzuhalten. Die Opposition organisierte sich neu, berief ein „Siebener-Komitee“, gab ein eigenes Mitteilungsblatt „The Herald of Christ`s Kingdom“ heraus und führte am 26. 3. 1918 ein eigenes Gedächtnismahl durch, welches die Spaltung endgültig besiegelte. Die Oppositionellen betrachteten sich als die Bewahrer der reinen Lehre Russells und nannten sich zunächst „Dawn Bible Students Association“ („Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung“). Rutherford und die Seinen galten als Abgefallene, die sich das materielle Erbe Russells angeeignet hatten 1918/19 zählten die „Ernsten Bibelforscher“ ca. 18.000 Anhänger. Zu den Oppositionellen dürften sich damals schätzungsweise rund 4.000 Menschen gerechnet haben. Doch die Einheit der Oppositionellen war von kurzer Dauer. Dietrich Hellmund berichtet über ihr weiteres Schicksal:
„Das Ende der oppositionellen Einheitsfront kam bald. Anlässlich ihrer Hauptversammlung 1918 kam es zu allerlei Misshelligkeiten. Johnson überwarf sich mit den vier Ex-Direktoren und machte ein eigenes Hauptbüro in Philadelphia auf. Das ist der Anfang der Laymen`s Home Bible Student`s Movement . Ihr stand er bis zum Tode als ´der Erde großer Hoherpriester` vor. Der verbliebene Rest konnte seinerseits auch keinen Frieden untereinander halten und zerfiel bald in eine Unzahl kleiner und kleinster Sekten… Das endgültige Schicksal der Opposition ist Selbstzerfleischung.“
Читать дальше