Der Kindergarten verschaffte mir aber auch das erste noch ganz unverstandene Gefühl für Naziherrschaft und Krieg. Vom Krieg wussten wir Kinder nichts, auch als später mein Vater verschwand und nur noch gelegentlich für ein bis zwei Tage am Wochenende zu Besuch kam. Wir Kinder bemerkten seine Abwesenheit kaum, war er doch auch vorher tagsüber nie zu Hause, und wenn er abends nach Hause kam, waren wir Kinder meist schon im Bett. Meine Mutter brachte ihm um die Mittagszeit das Essen in Blechdosen, die dick in Zeitungspapier eingewickelt waren, in seinen Filmpalast. Einmal durfte ich meine Mutter bei ihrem Essensgang begleiten und stellte mich, während sie beim Vater im Büro war, in die geöffnete Tür des Kinosaals. Was ich da auf der Leinwand sah, war mir völlig unverständlich. Männer mit Gewehren und Stahlmützen auf dem Kopf, Feuer und Geschrei und martialische Marschmusik. Eine tiefe Männerstimme, der das alles sehr zu gefallen schien, überdröhnte die dahin rennenden Bilder, jubelte laut und macht mir Angst. Meine Mutter zog mich von den Bildern weg und sagte etwas von Wochenschau. Von Krieg sagte sie nichts.
Als der Krieg begann, war ich noch nicht drei Jahre alt. Zwar wussten wir Kinder noch immer nichts vom Krieg, aber was etwa zwei Jahre später an einem Tag im Kindergarten passierte, gab mir eine sehr undeutliche, aber auch sehr unangenehme Ahnung. Die Regeln im Kindergarten waren streng. Wenn die Kinder an ihren kleinen Tischen saßen und ihre Hände nicht mit Essen oder Basteln beschäftigt waren, mussten sie flach auf dem Tisch liegen. Die vier Finger auf, der Daumen unter der Tischplatte. Und wir mussten mucksmäuschenstill sein. Kein Laut durfte über unsere Lippen kommen. Eines Tages, im Sommer, spielten die Kindergartentanten – es waren drei oder vier junge Frauen – zusammen mit der Köchin und der Putzfrau verrückt. Sie drehten das Radio auf, spielten laute Musik und holten Blechdeckel aus der Küche mit denen sie den Takt schlugen und dabei laut sangen. Sie saßen auf Stühlen, die sie auf unsere Kindertischchen hochgestellt hatten, kreischten und sangen, während eine von ihnen mit einem Rohrstock bewaffnet die Kindertische entlang ging und auf jede Hand schlug, die nicht ordnungsgemäß auf dem Tisch lag und jedem Kind, das einen Laut von sich gab, den Rohrstock über den Rücken zog. Dass die Kindergartentanten einen Sieg der deutschen Wehrmacht feierten, konnte ich nicht ahnen, aber dass Erwachsene für mich keine natürlichen Autoritäten mehr waren, stand nach diesem Erlebnis fest.
Noch eine andere Erfahrung, eine im Familienkreis, hat dazu beigetragen, dass ich Erwachsene schon als Kind nicht als unfehlbar wahrnahm, sondern in ihnen schon im Vorschulalter Menschen mit Fehlern sah.
Unsere Wohnung in der Weinbergstraße bestand aus fünf Zimmern, einer Kammer, einer Küche und einem Bad. Wir Kinder wohnten im Kinderzimmer, an welches das Zimmer des jeweiligen Dienstmädchens anschloss, sodass sie uns – wir aber auch sie – des Nachts überwachen konnten. Zum Garten hin lagen das Elternschlafzimmer, das Esszimmer und das Herrenzimmer, welches für uns Kindern nur zu Weihnachten zugänglich war oder wenn Gäste kamen und wir Ihnen mit Diener und Knicks guten Tag sagen durften, ehe wir im Kinderzimmer zu verschwinden hatten. Allerdings führte der Durchgang zu einer kleinen Terrasse mit der Treppe zum Garten nur durch das Herrenzimmer. Wenn wir in den Garten wollten, aber nur dann, durften wir daher das Herrenzimmer betreten.
Als mein Vater, es muss in den ersten Kriegsjahren gewesen sein, auf Urlaub oder über ein Wochenende zu Hause war, zeigt er uns Kindern seine neueste Errungenschaft: eine Taschenuhr aus Silber, die ihm ganz offensichtlich viel bedeutete. Wir durften die Uhr ansehen, sie aber nicht berühren. Das wurde uns unter Androhung der schlimmsten Strafen strikt verboten.
Ich muss zuvor sagen, dass meine Eltern uns Kinder nicht schlugen. Ich kann mich an schlimme Schimpftiraden, an Hausund Stubenarrest und an Taschengeldentzug erinnern, aber an keine elterlichen Schläge. Umso eindrucksvoller für mich war das, was an jenem Urlaubstag passierte:
Auf dem Weg in den Garten durchquerte ich das verbotene Herrenzimmer – und sah auf Vaters Schreibtisch die neue Uhr liegen. Ich blieb stehen und schaut die Uhr an. Das glitzernde runde Schmuckstück mit der langen Kette und den Zahlen im Gesicht zog mich magisch an. Schließlich lag die Uhr auf meiner Hand, ich streichelte sie vorsichtig mit nur einem Finger und entdeckte dabei ein kleines Rädchen, das sich kinderleicht drehen ließ. Mehrmals drehte ich das niedliche Rädchen hin und her und sah, wie die Zeiger der Uhr sich langsam und lautlos in Bewegung setzten. Aber mir zitterten die Knie. Zwar waren die Eltern ausgegangen und meine Brüder spielten im Garten. Es konnte also nichts passieren. Trotzdem legte ich das kleine Wunderwerk sehr bald und sehr sorgfältig an genau die Stelle zurück, an der es vorher gelegen hatte. Die Stelle hatte ich mir genauestens gemerkt.
Stunden später spielten wir drei Kinder im Kinderzimmer. Die Eltern waren zurück, es sollte gleich Abendbrot geben. Da stürmte mein Vater ins Kinderzimmer. »Wer hat mit meiner Uhr gespielt?« schrie er und ging, vor Zorn rot im Gesicht auf meinen älteren Bruder los. »Lass ihn los, lass ihn los, ich war es!« rief ich laut dazwischen und: »Ich habe die Uhr angefasst, ich habe sie in die Hand genommen, ich war es!« Mein Vater wollte nichts hören, packte meinen Bruder, legte ihn übers Knie und schlug zu. »Ich war es, ich war es!« schrie ich immer wieder, aber mein Vater ließ nicht ab. Nachdem er den Großen hinlänglich vermöbelt hatte und dieser laut heulte, packte er sich den Kleinen und versohlte ihn ebenfalls. Mein ständiges Schreien »Ich, ich war es!« hielt ihn nicht auf und erst als letzte kriegte dann auch ich meine Tracht Prügel verabreicht.
Als mein Vater wieder draußen war, schauten mich meine beiden Brüder mit bösen Blicken an und wandten sich von mir ab. Dass es mir so sehr leidtat und dass ich mich bei ihnen entschuldigte, änderte nichts daran.
3.Tübingen (1943)
In der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1943, als Kassel, unter anderem der Henschel-Werke wegen, in Schutt und Asche gelegt wurde, brannte auch unser Haus in der Weinbergstraße bis auf die Grundmauern ab. Eine Phosphorbombe hatte es getroffen und alles Brennbare vernichtet. Auch meinen Puppenwagen mit meinen geliebten Puppen. Mein Vater, der einen solchen Angriff auf Kassel vorausgehen hatte, hatte dafür gesorgt, dass wir nach den Sommerferien 1943, die wir bei meiner Tante Gertrud in Tübingen verbrachten, nicht nach Kassel zurückgekehrt waren.
In Tübingen wurde ich eingeschult. Etwas spät, wie ich fand, aber da ich im November geboren war, nahm man mich 1942 mit nur fünfeinhalb Jahren trotz meines dringenden Wunsches und eines Besuchs in der Kasseler Schule, an den ich mich gut erinnern kann, nicht an. Der Schulanfang in Tübingen stellte sich für mich dann allerdings als beschwerlich heraus. Stand ich doch unter der Fuchtel von insgesamt drei Lehrern: in der Schule unter der absoluten Autorität von Herr Lange; zuhause unter der meiner Mutter und Tante Gertruds, die beide von Beruf Lehrerin waren. Immer wieder wischten Mutter und Tante die Schiefertafel aus, auf der ich die vom Lehrer am Anfang jeder Zeile vorgeschriebenen Buchstaben „OH MAMA“ und „HALLO OMA“ feinsäuberlich bis zum Ende der Zeile hingeschrieben hatte. Immer wieder, den ganzen Nachmittag, hatte ich versucht, diese verflixten Buchstaben gerade und gleichmäßig auf die Tafel zu bringen. Immer wieder kam Tante Gertrud oder Mama mit dem feuchten Schwamm und wischte alles aus. Bis endlich die ungefähr siebte vollgeschriebene Tafel Gnade bei ihnen fand. Voller Stolz präsentierte ich am nächsten Morgen mein Werk Herrn Lange, als dieser die Reihen abschritt und jede Tafel eingehend begutachtete. Ich saß in der Fensterreihe auf der letzten Bank und freute mich auf sein Lob. Doch Herr Lange schaute nur kurz auf meine Tafel, schüttelte den Kopf, nahm eine dicke rote Kreide aus der Tasche und vernichtete die Freude über mein Meisterwerk mit einem dicken Strich.
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