„Herr Zakis ist der Koch. Er hatte von seinen Einkäufen in Stralsund und auf Rügen schon einiges an Böllern mitgebracht. Es waren diese typischen Packungen, die man beim Discounter bekommen kann. Aber Martin reichte das nicht. Er wollte etwas ganz Besonderes. Darüber haben sich die beiden in die Haare bekommen. Martin hat sich dann seine Sachen geschnappt. Er wollte nach Rügen fahren, um richtiges Feuerwerk zu besorgen. Er hatte da von einem Laden gehört, wo man wohl Zeug kaufen könne, dass eben nicht nur puff macht, sondern am Himmel glitzernde Kugeln oder Funkenregen erzeugt. Was weiß ich. Dann ist er also noch mal los. Zur Fähre und dann nach Bergen. Er wollte am frühen Nachmittag wieder zurück sein. Aber er kam nicht. Ich konnte ihn auch nicht erreichen, denn er hatte in der ganzen Hektik sein Handy hier vergessen. Zuerst habe ich mir auch keine Sorgen gemacht. Der Fährverkehr war ja eingestellt und ich dachte mir, er wäre auf Rügen geblieben und vielleicht zu seiner Schwester gefahren. Er konnte uns ja auch nicht mehr anrufen, denn ab Neujahr war hier oben alles tot. Das Telefon ging nicht mehr. Nicht mal die Funktelefone. Durch den starken Schneefall konnten wir auch nicht raus. Ich hatte gehofft, dass er sich vielleicht bei Herrn Blank gemeldet hat, aber der hat sich hier auch nicht blicken lassen …“
„Herr Blank?“, fragte Nelly.
„Der Rabe“, rutschte es Damp heraus, noch bevor Isa Leetz antworten konnte. Er schlug die Hand vor den Mund. Isa Leetz konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nelly sah beide überrascht an.
„Blank war früher Angestellter der Vogelwarte, muss schon fast achtzig sein“, klärte Damp seine Kollegin auf. „Er fühlt sich als so eine Art Herr über die Hiddenseer Vogelwelt und nervt gewaltig, traktiert mich ständig mit Anzeigen, wenn irgendjemand die Vogelschutzgebiete auf der Insel unberechtigt betritt oder über die Absperrungen an der Steilküste steigt. Den Rangern vom Nationalparkhaus liegt er auch andauernd in den Ohren, sie müssten mehr für die Vögel tun. Wegen seiner Kleidung, einem alten Hut und einem weiten Mantel, nennen ihn alle auf der Insel den Raben.“
Nelly nickte.
„Er hat meinen Mann auch auf die Idee gebracht, die Vogelwarte zu kaufen und hier dieses Vogelzimmer einzurichten“, meinte Isa Leetz abschätzig. „Es sollte eine Mischung aus Hotel und Museum sein. Sonst war er jeden Tag hier oben, auch wenn ich da war, und hat mit Martin ewig über die Vögel, den Vogelzug und die Auflösung der Vogelwarte geredet. Aber seit Silvester war er auch nicht mehr hier. Was mich wundert.“
Damp und Blohm nickten sich zu.
Isa Leetz stand auf und ging zum Kamin. Sie warf ein paar Scheite in das brennende Feuer.
„Dass Martin tot ist … Ich kann es noch nicht fassen“, sagte sie mehr zu sich selbst. Dann stützte sie sich am Kaminsims ab. „Was soll denn nun werden? Wir haben das Haus voll. Ich habe doch auch gar keine Ahnung …“
„Wissen die Gäste vom Verschwinden Ihres Mannes?“, fragte Nelly.
Isa Leetz schüttelte den Kopf. „Sie wissen, dass er nicht da ist, weil er wegen dem Eis nicht mehr von Rügen zurückkommen konnte. Aber langsam wird es schwierig. Die Journalisten wollen eine Homestory machen, alles Mögliche über das Hotel und das Konzept wissen, aber … was soll ich ihnen sagen?“
Damp fragte noch, welche Fähre er am Silvestertag genommen hätte.
„So gut kenne ich mich nicht aus. Er wollte von Kloster fahren, hoffte, dass der Eisfahrplan noch nicht galt und er bis nach Vitte müsste.“
Die Polizisten verabschiedeten sich. Als sie vor der Tür standen, schüttelte sich Damp. „Wie ich so etwas hasse.“
„Das gehört nun mal zum Job“, erwiderte Nelly.
Zurück nach Kloster ging es aus dem Hochland schneller durch die getretene Spur, auch wenn es mittlerweile wieder zu schneien angefangen hatte. Die Polizisten begegneten keiner Menschenseele. Nur hier und da zeigte ein erleuchtetes Fenster, dass Menschen zu Hause waren, aber bei dem frostigen Wetter nicht vor die Tür gingen.
Die Fenster des Polizeiautos waren eingefroren. Damp kramte in den Seitenfächern der Türen vergeblich nach einem Eiskratzer, während Nelly Blohm mit heftigem Hüpfen versuchte, ihre kalten Füße etwas aufzuwärmen. Damp holte sein Portemonnaie heraus, griff seine Krankenkassenkarte und begann damit die Scheiben zu schaben.
„Können Sie nicht schon mal den Motor anmachen?“, fragte Nelly bibbernd.
Damp lehnte ab. „Wir müssen Benzin sparen. Wer weiß, wann wir Nachschub kriegen.“
Nelly verzog das Gesicht. „Was machen wir denn nun?“, wechselte sie das Thema.
Damp zuckte mit den Schultern. „Gar nichts, bis sich dieser Quacksalber aus Greifswald meldet und uns sagt, wie Dehne umgekommen ist.“ Er hielt mit dem Eiskratzen kurz inne. „Ich frage mich echt, wie er sich als Lehrer diesen Schuppen leisten konnte.“
„Durch den Verkauf der Häuser.“
Damp schüttelte den Kopf. „Ich bin bestimmt kein Fachmann, aber wie das da alles auf Chic gemacht ist, das zahlt man nicht aus der Portokasse. Und das Haus, die alte Vogelwarte, musste er sich vorher ja auch noch kaufen. Nee, irgendwas passt da nicht.“
Damp setzte Nelly Blohm in der Sprenge ab. Trotz des Neuschnees war der Weg hinter dem Bodden durch den Einsatz der Feuerwehr noch gut befahrbar. Sie musste um das Haus laufen, denn Maltes Pension stand mit der Giebelseite zum Bodden. Der Eingang befand sich in einem kleinen Hof. Gerade als Nelly an das Fenster der Veranda klopfen wollte, kam Malte und öffnete die Tür.
„Immer herein.“
Nelly trat ein und zögerte. Sie wollte mit ihren nassen Schuhen die Teppichläufer nicht schmutzig machen.
„Lassen Sie mal. Ist nur Wasser. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen ein paar Latschen besorgen. Meine Gäste lassen immer was liegen. Da findet sich sicher was.“
Aus der Küche duftete es nach gebratenem Fisch. Nelly merkte, wie hungrig sie war. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen. Sie musste sich dringend was besorgen. Hoffentlich hatte der Supermarkt noch offen.
„Ich würde nur kurz meine Tasche abstellen und dann noch mal schnell los. Ich habe noch nicht eingekauft.“
„Nun mal langsam, junge Frau“, beruhigte sie Malte. „Gehen Sie erst mal auf ihr Zimmer und richten sich ein. In einer Viertelstunde gibt es Abendbrot.“
„Aber …“
„Keine Widerrede.“
Als sie wenig später wieder herunterkam, war in der Stube der Tisch gedeckt. Nelly hatte mit Lukas und ihrer Mutter telefoniert. Offenbar vermisste sie ihren Sohn mehr als umgekehrt. Jedenfalls hatte er ihr begeistert erzählt, dass er mit seiner Oma gespielt, gelesen und gebacken hätte. Dann hatte er das Telefon weitergereicht. Ihre Mutter hatte hinterlistig gefragt, ob sie denn heute noch kommen würde. Nelly wusste nicht recht, was sie sagen sollte. „Nein, das zieht sich hier noch hin.“
„Was habe ich dir prophezeit“, hatte ihre Mutter noch einmal in der Wunde gebohrt und dann aufgelegt.
Nelly musste an der Schwelle zu Maltes Wohnstube den Kopf einziehen. Der graue Kater hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht und schaute sie prüfend an. Scheu kannte er durch die vielen Sommergäste nicht.
„Setzen Sie sich“, ließ sich Malte aus der Küche vernehmen. Kurz darauf erschien er mit zwei Tellern.
„Ich hoffe, Sie essen Fisch?“
„Bin doch ein Mädchen von der Küste.“
Sie schaute mit offenem Mund auf das, was er vor ihr abstellte.
„Das ist Zanderfilet, gebraten, dazu Bratkartoffeln mit Speck.“
„Es duftet herrlich“, erklärte Nelly begeistert, „aber ich kann Ihnen doch nicht Ihre Vorräte wegessen …“
„Mach dir mal keine Sorgen, Mädchen. Die Kühltruhe ist voll. Die Speisekammer auch. Ist für mich nicht der erste harte Winter auf der Insel. Musst nicht alles glauben, was die so erzählen im Fernsehen von Mangel und Not hier, nur weil mal der Bodden dicht ist. Auf Hiddensee ist noch keiner verhungert. Jedenfalls kein Hiddenseer. Und nun iss mal, sonst wird’s kalt.“
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