„Geht es vielleicht auch etwas vorsichtiger?“, fragte sie empört ihren Kollegen. Aber Damp brummte nur etwas Unverständliches. Innerlich kochte er. Der Pilot des Hubschraubers war nicht bereit gewesen, noch einen Abstecher ins Hiddenseer Hochland zu machen, um die Polizisten und Laura Ihlow zum Hotel „Dornbusch“ zu fliegen, damit sie dort Frau Dehne über den Tod ihres Mannes informieren und gleich vernehmen könnten. Bei der Schneehöhe sei es unmöglich, den Hubschrauber zu landen. Bökemüller hatte ihn bei seiner Bitte auch nicht unterstützt, sondern durch einen deutlichen Blick auf die Uhr klargemacht, dass er zum Aufbruch nach Stralsund drängte. Nun stand den Polizisten und ihrer Zeugin eine Tiefschneewanderung bevor. Außerdem war Damp sauer auf den Pathologen. Auch Doktor Krüger wollte sich bei der Todesursache nicht festlegen. Sicher würden alle Anzeichen, auch an der aufgetauten Leiche, auf Erfrieren hindeuten, aber er könne, wie der Inselarzt, nicht ausschließen, dass der Mann nicht doch eines anderen Todes gestorben sei. Das könne nur die Obduktion ergeben. Bökemüller wies daraufhin an, bis zu einem endgültigen Bericht des Pathologen weiter zu ermitteln, was mit Dehne passiert sein könne. Also blieb auch Nelly Blohm auf der Insel. Sie würde damit einen Fuß in die Tür seines Polizeireviers bekommen und sicher bald auf Rieders Stuhl sitzen. Dann wäre es mit der Ruhe dahin. Ständig klapperte sie auf der Tastatur ihres Laptops herum, suchte nach irgendwelchen Ermittlungsansätzen, recherchierte über das Mordopfer und dessen Hotel im Internet und anderswo. Ganz zu schweigen von ihrer Telefon-SMS-Aktion für die Urlauber, die der Bürgermeister und Bökemüller noch mal ausdrücklich als hervorragenden Einfall gelobt hatten. Irgendwann würde schon ein Hubschrauber kommen oder wieder eine Fähre fahren. Wer im Winter auf eine Insel fuhr, musste damit rechnen, nicht wieder zurückzukommen. Pech gehabt! Da musste man nicht gleich bei dem bisschen Protest einknicken. Bei der Kälte wären die Leute irgendwann abgezogen. Alles Weicheier, diese Chefs.
Damp spürte, wie das Auto mehr schlitterte als fuhr. Die Reifen griffen kaum auf der glatten geräumten Schneefläche. Blohm war im Fußraum abgetaucht und suchte nach ihrem Telefon. Sie wollte bei der Telekom in Bergen anrufen, um zu erfahren, was mit den Telefonleitungen und Mobilfunkverbindungen im Norden Hiddensees los war. Als sie wiederauftauchte, starrte sie Damp an. „Haben Sie noch Sommerreifen drauf?“
Damp sah sie kurz an. „Und wenn?“
„Sind Sie verrückt?“
„Ich nicht“, gab er zurück, „aber die Polizeidirektion. Sparmaßnahme. Da es hier oben so selten schneit, fahren wir mit Ganzjahresreifen. Nur dass sie nicht für das ganze Jahr taugen. Wie wir gerade sehen. Hat Ihnen das Ihr Revierleiter in Bergen nicht mitgeteilt?“
„Das kann doch nicht wahr sein.“
„Ist es aber.“
Nelly Blohm schüttelte ungläubig den Kopf. Damp fuhr langsamer.
In Kloster schaffte das Auto nicht den kleinen Anstieg vor dem Gerhart-Hauptmann-Haus. Das Auto glitt zurück auf den Platz vor dem Inselmuseum. Damp nahm einen neuen Anlauf, ließ den Motor jaulen. Ein kleines Stück fuhren sie bergauf, doch dann drehten die Reifen durch. Wieder rutschte der Wagen zurück.
„Endstation“, verkündete Damp. Er legte den Rückwärtsgang ein und fuhr auf den Platz vor dem Inselmuseum. „Hier geht’s nur zu Fuß weiter.“
Damp stieß die Fahrertür auf, stieg aus, griff auf dem Rücksitz nach seiner Schapka, stülpte sie auf den Kopf und knallte die Tür zu.
Auch die beiden Frauen stiegen aus. Laura Ihlow starrte auf ihre feuchten Stiefel. Nelly Blohm war mit richtigen Schneeboots gut gerüstet. Damp hoffte, dass er mit seinen Filzstiefeln keine kalten Füße bekäme. Er ließ die Zentralverriegelung zuschnappen. Dann stapften sie schweigend los. Der Kirchweg in Kloster war ganz gut geräumt, aber doch sehr glatt. Sie liefen bis zur Bäckerei „Kasten“ und bogen dann nach links in den Hügelweg ein. Im tiefen Schnee gab es ein paar Fußspuren. Hier wohnten noch Hiddenseer, die immer mal vor die Tür mussten. So kamen sie ganz gut voran. Doch nachdem sie das Stromhäuschen passiert hatten, versanken sie auf dem Weg „Zum Hochland“ bis zu den Oberschenkeln im Schnee. Hier gab es zwar auch links und rechts des Weges Häuser, versteckt hinter Hecken und den tief hängenden Zweigen der Bäume, ihre Besitzer kamen aber nur im Sommer auf die Insel. Durch die hohe Schneedecke waren die Ferienhäuser im gräulichen Tageslicht kaum zu erkennen. Damp überlegte, ob die Dächer die schwere Last aus Eis und Schnee auf Dauer aushalten würden.
Der Weg war nicht zu erkennen, aber es gab eine Spur. „Das sind noch meine Abdrücke“, bemerkte Laura Ihlow. „Weiter oben wird es noch schlimmer.“
Damp verzog das Gesicht. Nelly Blohm stöhnte.
„Wir hatten gehofft, Herr Böhnke würde vielleicht mit seinem Schlitten mal vorbeikommen und so wenigstens mit den Pferden eine begehbare Spur in den Schnee ziehen“, erklärte die Hotelangestellte. „Herr Dehne hatte es mit ihm verabredet, damit sich die Urlauber auch bei diesem Wetter auf der Insel bewegen könnten. Aber er hat sich nicht gemeldet.“
Das wunderte Damp. Böhnke betrieb ein Fuhrunternehmen in Kloster. Sein alter Eisschlitten, mit dem schon früher sein Vater übers Eis nach Rügen gefahren war, galt als Attraktion auf der Insel. Er hatte Böhnke damit in den letzten Tagen auch gesehen. Der Fuhrunternehmer hatte Touristen, eingepackt in Decken und Felle, über die Insel kutschiert. Warum war Böhnke dann nicht auch zu Dehnes Hotel gefahren? Damp würde der Sache mal auf den Grund gehen.
Laura Ihlow bog nach links ab in einen zunächst schmalen, gassenartigen Weg. Die Polizisten folgten ihr. Bald öffnete sich die Landschaft und vor ihnen lag ein weites Schneefeld. Am Ende stand ein Haus. Die alte Vogelwarte, nun das Hotel „Dornbusch“. Damps Ärger war durch die Anstrengung fast verflogen. Er blickte sich um. Links ragten hinter dichten Büschen die dunklen Gemäuer der Lietzenburg auf. Er sah einen Lichtschein. „Dort ist ja jemand“, rief er aus. Auch die beiden Frauen sahen sich um.
„Nein, das ist nur ein Baustellenlicht“, erklärte Laura Ihlow. „Es brennt nicht immer, sondern ist an eine Zeitschaltuhr gekoppelt. Der Besitzer will damit Einbrecher abschrecken, damit sie ihm nicht wieder ausbauen, was er gerade hat einbauen lassen.“
Damp schüttelte den Kopf. So etwas war noch nie auf Hiddensee passiert. Er konnte sich nicht mal genau erinnern, wann ihm das letzte Mal ein Einbruch gemeldet worden war. Vielmehr sorgte er sich über die unvorsichtigen Hiddenseer, die gern mal ihre Hausschlüssel unter Blumentöpfen oder in einem geöffneten Fenster ablegten. Dafür brachten die Zugereisten aus den Großstädten nun neue Marotten mit und ließen das Licht brennen, wenn sie nicht da waren.
Endlich hatten sie das Hotel „Dornbusch“ erreicht. Sie trampelten sich auf der Eingangsstufe den Schnee von Kleidung und Schuhwerk. Von dem Vorraum ging es in ein dunkles Treppenhaus. Die Wände waren grau gestrichen, zu den Stufen durch einen ochsenblutroten Sockel abgegrenzt. Die Holzstufen waren im selben Farbton gestrichen, aber mit einem hellen Kokosläufer. Es roch noch nach frischer Farbe. Links öffnete sich eine Tür. Eine Frau schaute heraus.
„Endlich!“, rief sie aus. „Haben Sie etwas erreicht?“
Laura Ihlow deutete hinter sich. „Frau Blohm und Herr Damp von der Polizei. Sie haben keine guten Nachrichten.“ Sie fing wieder heftig an zu weinen und rannte ohne ein weiteres Wort die Treppe nach oben.
Die Frau starrte die beiden Polizisten an. „Was ist mit Martin?“ Damp sah kurz Nelly Blohm an. Sie hatten nicht ausgemacht, wer die Todesnachricht überbringen sollte. Aber er war der Chef, dachte sich Nelly. Damp ging einen Schritt nach vorn, doch die Ehefrau kam ihm zuvor. „Ist er … ist er tot?“, fragte die Frau mit leiser, ungeduldiger Stimme.
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