Eberhard Hilscher - Die Weltzeituhr

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Wiederentdeckung: Hilschers Roman einer Epoche neu aufgelegt In seinem Hauptwerk »Die Weltzeituhr« (1983) gestaltet Eberhard Hilscher Lebens- und Weltgeschichte von 1928 bis 1962 und durchleuchtet den ostdeutschen Teilstaat. Aus subjektiver, teils schelmischer, teils philosophischer Sicht zeigt er den Prozess, wie die DDR zu dem wurde, was sie war: ein diktatorischer Staat, gegen den sich der Romanheld Guido Möglich als intellektuelles Genie in fast krullscher Manier zu behaupten weiß. Nun erscheint der Roman in einer durchgesehenen Ausgabe letzter Hand.

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EBERHARD HILSCHER(1927–2005) wurde im brandenburgischen Schwiebus (heute Świebodzin, Polen) geboren und als 17-Jähriger eingezogen. Nach der Rückkehr aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft verdingte er sich zunächst im Kreis Nauen als Landarbeiter, später studierte er an der Berliner Humboldt-Universität Germanistik. Der Autor hinterließ ein umfangreiches Werk, neben Monografien, etwa über Thomas Mann, Gerhart Hauptmann und Arnold Zweig, schrieb er Essays und Fiktives. Seine erste erzählerische Arbeit, „Feuerland ahoi!“, erschien 1961, sein erster Roman, „Der Morgenstern“, 1970. Sein Hauptwerk „Die Weltzeituhr“ (1983) erscheint nun erstmals als unzensierte Ausgabe. Hilscher lebte bis zu seinem Tod in Ost-Berlin, seine letzte Ruhestätte fand er im Ort seiner Geburt.

EBERHARD HILSCHER

DIE WELTZEITUHR

Mit einem Nachwort von Volker Oesterreich

mitteldeutscher verlag

2017 mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH Halle Saale - фото 1

2017

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Die Originalausgabe erschien 1983 im Buchverlag Der Morgen, Berlin.

Alle Rechte vorbehalten

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 978-3-95462-958-9

E-Book-Umsetzung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

INHALT

Cover

Titel EBERHARD HILSCHER DIE WELTZEITUHR Mit einem Nachwort von Volker Oesterreich mitteldeutscher verlag

Impressum 2017 © mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale) www.mitteldeutscherverlag.de Die Originalausgabe erschien 1983 im Buchverlag Der Morgen, Berlin. Alle Rechte vorbehalten Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) ISBN 978-3-95462-958-9 E-Book-Umsetzung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

ERSTES LUSTRUM

Abschied von der Tauchstation

Zeitansage, 1. Jahr

Unschärferelationen

Zeitansage, 1. Jahr (Fortsetzung)

In klassischem Geiste

Zeitansage, 2. und 3. Jahr

Der liebe Gott hat gepetzt

Inspektion des Universums

Ein paar Etagen tiefer

Zeitansage, 4. Jahr

Märchenstunde im Zwischenreich

Zeitansage, 5. Jahr

Doktorspiele

ZWEITES LUSTRUM

Sein Kampf in Bildern oder: Zeitansage, 6. Jahr

Eine schöne Bescherung

Zeitansage, 7. und 8. Jahr

Der klagende Delfin

Zeitansage, 9. Jahr

Von der Größe eines Landes und des Kindes

Zeitansage, 10. Jahr

Der spanische Pavillon

Zeitansage, 10. Jahr (Fortsetzung)

Mein lieber Jab!

DRITTES LUSTRUM

Erscheinungen des Neandertalers

Zeitansage, 11. Jahr

Das Uran-Ei, fern und nah gesehen

Von Stinkbomben und Ginseng

Zeitansage, 12. Jahr

Sonate in Atom-Moll

Zeitansage, 13. Jahr

Krieg im Frieden

Der Pirol pfiff um vier Uhr dreißig

Zeitansage, 14. Jahr

Seine Rede war: Ja und nein

Zeitansage, 15. Jahr

Empfindungen und Erfindungen

Pablo und das Meer

VIERTES LUSTRUM

Wollt ihr den totalen Krieg? Zeitansage, 16. Jahr

Nackte Mädchen im Blickfeld

Zeitansage, 17. Jahr

Magister Constantins dritte Wiederkehr

Historische Belehrung über Truppen und Tripper

Stehen bleiben, oder ich schieße!

Die Stunde null

Zeitansage, 18. bis 20. Jahr

In der Steinzeit

Verkehrsregelung am Popocatepetl

FÜNFTES LUSTRUM

Von Währungen und Erwägungen; Zeitansage, 21. Jahr

Die Kunst der gewinnenden Gesprächsführung

Harmonie der Welt

Zeitansage, 22. Jahr

Weißt du noch?

Chemie des Lebens und der Liebe

Zeitansage, 23. Jahr

Ein Brief aus Harvestehude

Zauberei mit Erasmus

Zeitansage, 24. und 25. Jahr

Und wüssten’s die Blumen

Lob der Taugenichtse

SECHSTES LUSTRUM

Baumeistergeschichten; Zeitansage, 26. Jahr

Ansichten eines Mannes von hohem Geistesflug

Der Ausnahmezustand

Zeitansage, 27. und 28. Jahr

Haut ab, ihr alten Knacker!

Alle Sterne müssen fallen

Die Jupiter-Symphonie

Zeitansage, 29. Jahr

Von Zärtlichkeit und Zwietracht bedroht

Zeitansage, 30. Jahr

Was soll der nächste Weltkrieg kosten?

Experimente mit dem Affen-Virus

SIEBENTES LUSTRUM

Wir heißen euch hoffen; Zeitansage, 31. und 32. Jahr

Sigunes Uhren messen ein Ur-Erlebnis

Abfahrt vom Chinesischen Teehaus

Gesang aus der Tiefe; Zeitansage, 33. Jahr

Anrufungen zur Rettung unseres Planeten

Wunder der höchsten Höhe

Zeitansage, 34. Jahr

… so muss ich weinen bitterlich

Zeitansage, 35. Jahr

Pseudonyme der Tümmler

O blaue, lautlose Nacht

Abschied von G.

Nachwort

ERSTES LUSTRUM

Abschied von der Tauchstation

Es dreht sich! In lustvoller Nacht strudelt das Spermatozoon mit delfinähnlichen Schwanzschlägen durch den Gebärmutterteich in den Tubenkanal. Rund dreihundert Millionen Konkurrenten und Mitschwimmer waren innerhalb einer Stunde auf der achtzehn Zentimeter langen Wettkampfstrecke zurückgeblieben und in Vanillesauce ertrunken. Nun schießt der Sieger wie eine Rakete auf die eigelbe Korona zu: Durchstoß, Volltreffer, Zusammenschrumpfen des stäubchenkleinen Zielballons. Im Innern vollziehen sich geheimnisvolle chemische Reaktionen; blitzschnell ergibt sich ein zehnstelliges kodiertes Programm für neues Leben. Nachdem sich die genetische Kordel der Desoxyribonukleinsäure (DNS) aufgedröselt und in Lesezeichen umgewandelt hat, kommt es zur Kernspaltung und ersten Zellverdoppelung.

Schon am vierten Tage plumpst eine geleeartige Plasmabeere von der Rutschbahn in den Uterustümpel zurück, auf dessen schwammigem Grund sich der Blastozyt einnistet. Wie ein Spielball rollt die Fruchtblase in der zweiten Woche regelwidrig auf die rechte Seite des Dottersacks hinüber und entblättert sich. Die Keimlamelle signalisiert: situs inversus totalis. Bald darauf nimmt sie Sandalenform an, dreht sich um die Längsachse und schwebt bäuchlings in gläserner Amnionhülle. Am Ende des ersten Monats scheint das herzpochende Vier-Millimeter-Wesen Schwanz und Kiemen auszubilden, weshalb es in finsteren Zeiten nicht genau wusste, ob aus ihm Haifisch, Feuersalamander, Igel oder Affe werden sollte. Aber gegenwärtig zweifelt es (trotz raupenartiger Krümmung, die ihm Magen und Darm verdrillt) keinen Augenblick an seiner höheren Bestimmung. In der siebenten Woche vermag es, seine Personalität durch unverwechselbare Fingerabdrücke auszuweisen. Zwanzig Tage später definiert es sich mittels elften Fingers als Männlein, das seine junge Menschlichkeit kundtut, indem es Fäuste ballt und Mamas Innendekoration anpinkelt. Die schönste Zeit verbringt der Fetus, dem der Name Guido zugedacht ist, im fünften und sechsten Entwicklungsmonat. Durch Haarflaum und aromatische Firniscreme geschützt, turnt er schwerelos in der Unterwasserstation des Fruchtsacks, vollführt Saltos, Bauchwellen um die Nabelschnur, Hand- und Kopfstand. Bisweilen nuckelt er am Daumen oder bohrt im Po. Obwohl die feuchtwarme Taucherglocke ständig durchspült wird, ertrinkt er nicht, weil ihn der Sauerstoff-Inhalator der Plazenta reichlich versorgt. Interessiert beobachtet er seine kybernetischen Körpersysteme. Als er nach vierteljährigem Lidverschluss endlich wieder die Augen öffnen kann, hindert ihn feindliche Dunkelheit daran, die rote Brutkammer zu betrachten. Schade, denn transparente Häute ermöglichten ihm sonst einen fabelhaften Röntgenblick auf mütterliche und eigene Eingeweide. Nun vertreibt er sich die Zeit, indem er auf karikaturistisch dünnen Beinchen durch die Geburtsarena dribbelt und sich selbst lautlos applaudiert. Geheimnisvolle Vibrationen im Zwerchfellhimmel der Madonna offenbaren ihm das gleichzeitige Wachstum einer krummnasigen, plattfüßigen Zukunftsgefährtin, worauf er den Schicksalsschicker um Genreparatur oder ein stellvertretendes Brandmal bittet.

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