1 ...7 8 9 11 12 13 ...40 In dieser unübersichtlichen Situation hatte Reiswitz zwar kein Verständnis für die Revolution der Straße, jedoch durchaus Respekt vor den neuen Machthabern der Mehrheitssozialdemokratie, die es seines Dafürhaltens nach zumindest schafften, die kommunistische Bedrohung in Schach zu halten. Einen Tag später, am 10.11.18, kam er auf der Tauentzienstraße mit Offizierskameraden zusammen, von denen einer ihn galgenhumorig mit „Genosse Reiswitz“ ansprach. Für Reiswitz war in diesem Moment klar, dass „die Vernunft der Mehrheitssozialdemokratie, gestützt auf den sehr rechts stehenden Soldatenrat siegte und die völlige Anarchie“ bzw. der „Spartakus Wahnsinn“ verhindert wurde. Die Ebertregierung [Friedrich Ebert (1871–1925) stand seit dem 10.11.18 der Interimsregierung, dem Rat der Volksbeauftragten, vor] habe zwar den „schmählichsten Waffenstillstand“ unterzeichnet und auch die Bildung der Arbeiterund Soldatenräte, eine laut Reiswitz „bolschewistische Institution“, konnte nicht ungeschehen gemacht werden. Doch andererseits bescheinigte er Ebert und Scheidemann (1865–1939), den „Ursozialdemokraten“, dass sie für Deutschland „das beste“ wollten. Sein Verständnis für die SPD-Führer mündete aber keinesfalls darin, dass er sich selber als einen Sozialdemokraten sah. Nicht ohne Humor bekundete er: „Ich stehe auf Seiten der deutsch demokratischen Volkspartei. Ein Egoist auf Seiten der reinen Egoisten gegen die größten Egoisten.“ 105
Seine Antipathie gegenüber den linksradikalen Kräften zeigte sich dann besonders während des Spartakusaufstandes im Januar 1919 in Berlin. Am 12.01.19 schrieb er an seine Mutter: „[Karl] Liebknecht ist nach der Schweiz durchgebrannt. Radek, Ledebour 106, Rosa Luxemburg sind verhaftet. Schade, dass sie die Kerle nicht gleich an die Wand stellen, sondern verhaften. 400 Tote sind bereits überschritten und über 1000 Verwundete gezählt, und das alles so nahe von einem.“ 107Bei der angeblichen Flucht von Liebknecht (1871–1919) in die Schweiz handelte es sich um ein in der Presse kolportiertes Gerücht, ebenso wie bei der Verhaftung von Rosa Luxemburg (1871–1919). Liebknecht und Luxemburg wurden dann allerdings tatsächlich drei Tage später, keine halbe Stunde zu Fuß von Reiswitz’ Wohnung entfernt, in der Mannheimer Str. 43, von Angehörigen einer Wilmersdorfer Bürgerwehr aufgegriffen.
Doch Reiswitz’ deutliche Ablehnung der Spartakisten führte nicht zu seiner Hinwendung zum anderen politischen Extrem. 108Im selben Brief machte er sich lustig über den „deutsch nationalen Sturm“, dem er sich durch gewisse Bekannte nun ausgesetzt sah, weil er das Verteilen von Flugblättern für die „Deutsch Nationale Partei … diplomatisch abgelehnt“ hatte. 109Vor allem war er nicht bereit, sein Leben für das besitzende Bürgertum zu opfern. In einem rückblickenden Tagebucheintrag vom 28.01.19 meinte er sarkastisch: „Es schien, als sollte Spartakus siegen, aber noch einmal gelang es, die Sache ins Reine zu bringen. Bürgerjugend und Offiziere retteten den Kurfürstendamm und in zweiter Linie sich selbst.“ Er erwähnte, dass den „Kämpfern gegen Spartakus“ pro Kopf 18 Mark geboten wurden, woraufhin „die Jugend des Mittelstandes als ‚Gediente‘ kämpfte für die Bourgeoisie des Kurfürstendamm“. Diese „Jugend“ – darunter laut Reiswitz auch viele Juden – identifizierte er als „die guten Elemente, die wieder einmal dumm genug gewesen waren sich für die feiste Bourgeoisie aufzuopfern.“ Er, als jemand, der sich keineswegs als Verfechter der alten, den verlorenen Krieg zu verantwortenden, monarchischen Ordnung ansah, sondern Verständnis für die gemäßigte neue sozialdemokratische Staatsführung aufbrachte, begrüßte zwar die rigorose Niederwerfung der Spartakisten, wollte sich aber andererseits nicht der entstehenden Freikorpsbewegung anschließen, die er als Büttel des Besitzbürgertums betrachtete: „Ich wurde auch oft gefragt, warum ich nicht mitkämpfte. Ich habe geschwiegen.“ Und dies, obwohl Reiswitz eigentlich der Prototyp eines Freikorpsangehörigen war, „who had come of age in a bellicose atmosphere saturated with tales of heroic bloodshed“, der aber wegen seines nur kurzen Frontaufenthaltes „missed out on first-hand experience of the ‚storms of steel‘“. 110Reiswitz erging es nicht wie der Hauptfigur in Joseph Roths Roman „Das Spinnennetz“ aus dem Jahre 1923, Theodor Lohse, dem es seine weiblichen Familienangehörigen übelnahmen, dass er nicht den Heldentod gestorben war und nun als demobilisierter junger Leutnant, als wehrloses Opfer der Revolution seiner Mutter und Schwester zur Last fiel.
Damit ist in mancher Hinsicht sein Weg zum Jungkonservatismus 111vorgezeichnet: „Es wird noch eine furchtbare Auseinandersetzung geben zwischen feister Bourgeoisie und Proletariat, zwischen dem Gelde und der Dummheit. Wir werden wie stets unschuldig mitleiden.“ 112Reiswitz’ Distanz gegenüber der ökonomisch dominanten oberen Mittelklasse und seine Offenheit für politisches Gedankengut, welches das Schwergewicht auf die Gemeinschaft – sei es im völkischen oder sozialdemokratischen Sinne – legt, fand ihren Ausdruck im Gedankengut vieler Jungkonservativer. So war auch der später von den Nationalsozialisten ermordete Edgar Jung (1894–1934), streng „antikapitalistisch“ 113ausgerichtet. 114Auf den jungen Reiswitz traf ironischerweise genau das zu, was Armin Mohler als gängige Definition eines Jungkonservativen aus marxistischer Sicht anführt: Der Jungkonservative habe „die ehrliche Absicht die bürgerliche Herrschaft zu stürzen.“ Da es sich aber bei den Jungkonservativen, „größtenteils um befehlsgewohnte Frontoffiziere“ – oder Unteroffiziere, wie Reiswitz – handele, vermochten diese es nicht „sich dienend der proletarischen Bewegung einzuordnen“ und ihr „revolutionärer Anstoß mit seinen romantischen Rückständen“ artete schlussendlich in eine „Hilfestellung an den Kapitalismus“ aus. 115Vielleicht noch passender auf Reiswitz ist die Selbstreflexion des jungkonservativen Publizisten Max Hildebert Boehm (1891–1968), der in einem Privatbrief aus dem Jahr 1919 sich folgendermaßen beschrieb: „Ich gehöre zu dem Teil der rechtsstehenden Jugend, die nicht eine Liberalisierung des Konservatismus will, … sondern eine organische Verschmelzung konservativ-aristokratischer und sozialistischer Tendenzen.“ 116
Nach Beendigung der revolutionären Wirren in Berlin kehrte „Genosse Reiswitz“ schon bald dem Militär den Rücken. Noch vor seiner offiziellen Entlassung am 01.03.19 hatte er bereits am 02.11.18, also nur einen Tag nach der bestandenen Abiturprüfung, einen Gasthörerschein der Universität Berlin ausgestellt bekommen. Von November 1918 bis Februar 1919 konnte er als Externer nun Vorlesungen hören, unter anderem bei den jüdischen Professoren Ludwig Geiger (1848–1919) und Max Dessauer (1867–1947). Geiger, der sich 1873 bei Leopold von Ranke (1775–1886) – derjenige unter den deutschen Historikern, welcher auf Reiswitz selbst den nachhaltigsten Einfluss haben sollte 117– habilitiert hatte, lehrte Reiswitz über den „Deutschen Roman im 19. und 20. Jahrhundert“ und „Deutsche Kriege und Deutsche Dichtung“, Dessauer las eine „Einleitung in die Philosophie“. Ferner hörte Resiwitz bei Alois Riehl (1844–1924) „Nietzsche und seine Umwertung aller Werte“, bei Adolph Goldschmidt (1863–1944) eine Vorlesung über Architekturstile und bei einem gewissen „Dr. Hermann“ über den jungen Goethe. 118
Ab dem 29.01.19 war Reiswitz dann als ordentlicher Student in Berlin eingeschrieben und studierte acht Semester – zum Teil handelte es sich um „Zwischensemester“ – lang vornehmlich Philosophie, aber auch Literatur, Kunstgeschichte, Psychologie und Medizin sowie Biologie. In seinem Nachruf auf Reiswitz hält dazu der Historiker und spätere Kollege von Reiswitz, Georg Stadtmüller (1909–1985), fest: „Seine Studien waren nicht von praktischen Berufszielen, sondern ausschließlich von inneren Neigungen bestimmt.“ 119Demgemäß reichten Reiswitz’ „Neigungen“ von der Tierphysiologie, über welche er im Wintersemester 1921/22 ein Praktikum bei Wolfgang von Buddebrock-Hettersdorf (1884–1964) absolvierte bis hin zu Veranstaltungen bei Hugo Karl Liepmann (1863–1925) über Sexualpsychologie und die Psychologie der Frau, die er ein Jahr zuvor belegt hatte. 120Sicherlich stellte das Studium für Reiswitz die Fortsetzung seiner vor dem Krieg so herausgestrichenen Beschäftigung mit der „göttlichen Kunst“ dar.
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