Am 27. April 1904 schied Edgar nach nur vierzehntägiger Krankheit aus dem Leben. Man hatte ihn nicht mehr bettlägerig gesehen seit unseren gemeinsamen Kinderkrankheiten; alle Anfechtungen seiner zarten und durch eine überängstliche Erziehung noch verzärtelten Körperanlage hatte er mit eisernem Willen stehend und gehend in voller Tätigkeit überwunden. Mit dem dämonisch gespannten Blick des delphischen Wagenlenkers, der seine Rennbahn misst, ohne rechts und links zu sehen, hatte er jederzeit seinen Wahlspruch »Ich will« zum Siege geführt. Auch der Todeskrankheit, einer doppelseitigen Lungenentzündung, hatte er sich erst im letzten Stadium ergeben. Ja, er war noch einmal aufgestanden, um einen Schwerkranken zu besuchen, der seinen Arzt um einen Tag überleben sollte. Edgar war der mutigste Mensch, den ich je gekannt habe, denn zu dem durch Selbstzwang gestählten physischen Mut, der zu seiner physischen Kraft außer Verhältnis stand, gesellte sich bei ihm der seltenere Mut des Gedankens und der allerseltenste: der sittliche Mut zur Verantwortung jeder Art. Unfassbar war es für die Angehörigen, diesen Menschen, der überallhin als Helfer und Retter kam, jetzt vor sich zu sehen in der Hilflosigkeit der Krankheit. Die befreundeten Ärzte wussten sich nicht zu raten; er selber sah wohl, dass er in ungenügenden Händen war, weil keiner seinen durchdringenden Scharfsinn besaß. Es fehlt die Logik, sagte er zu mir, als er sich einen Augenblick mit mir allein sah, wenn ich doch selber den Verlauf besser überwachen könnte. Er verfolgte wohl die Symptome, aber das Fieber hatte ihn im Bann, dass er die Gedanken nicht klar zu halten vermochte. Die Muse aber blieb ihm zur Seite; noch wenige Tage vor der Auflösung übergab er seiner Mutter eine mit sicherer und scheinbar müheloser Sprachkunst geschmiedete Übersetzung eines Horazischen Gedichts. Nach dem letzten schweren Röcheln, im Augenblick wo der Atem stillstand geschah etwas Unfassbares: als ob eine Hand blitzschnell über die eben noch tiefbeseelten Züge, die im letzten Kampf noch leuchtenden dunkelblauen Augen hinführe und jeden Ausdruck wegwischte, dass nichts übrig war als ein bleiches ausgeleertes Wachsbild. An keinem anderen Sterbebette war je vor meinen Augen diese Wandlung eingetreten, die mir den oft gehörten Ausdruck: »der Geist entfloh« so unbezweifelbar in seiner Wahrheit vorführte: ich hatte ihn wirklich und tatsächlich entfliehen sehen, mit solcher Schnelle, wie es nur bei ihm, dem Schnellsten, geschehen konnte. Wo war er hin, dass auch nicht die blasseste Spur seines Wesens dem seelenlosen, keine Erinnerung festhaltenden Abbild eingeprägt blieb? Keinen anderen Toten sah ich so als bloße Schale daliegen. Dieser, man sah es, ließ auf der Erde nichts zurück, was ihn halten konnte, es war alles abgefallen; blitzschnell wie ein Meteor, so schien es mir, fuhr er einer neuen, höheren Aufgabe zu. Vanzetti, der danebenstand, schloss die erloschenen Augen und sicherte den Mund mit einem Gummistrang. Der Arme hatte sein Bestes verloren, aber in diesem Einsturz diente er jetzt allen zum Halt.
Ich konnte nur stehen und ins Leere staunen. Da lag nun der Mensch, den mir die Natur zum Freund hatte geben wollen, der in der Kindheit zwillingsartig mit mir verwachsen gewesen, der mir im Wollen, Fühlen, Meinen am verwandtesten war, verwandter auch als die geliebte Mutter, der bis zuletzt alle tiefen und zarten Seelenregungen mit mir gemein gehabt hatte, der einzige unter den Brüdern, dem wie mir bei einem hohen und geheimen Dichterwort der Atem stockte, der wie ich in dem Leben der Sprache einen heilig zu haltenden organischen Vorgang sah; der Mensch, der sogar die äußeren Merkmale des Seelenlebens mit mir gemein hatte, wie den schnellen Wechsel der Farbe und das von Freunden oft beredete Aufflammen und Schwarzwerden der Pupillen in Momenten der Erregung. Und dennoch bei einer so seltenen inneren Übereinstimmung und im nahen persönlichen Zusammenleben waren wir eins dem anderen entglitten, und jedes lebte in seiner Seelenwelt allein. Keins von beiden vermochte es zu erklären, und keins vermochte es zu ändern. Vielleicht wenn wir nicht Bruder und Schwester gewesen wären, würden wir uns geliebt haben. In seinem Nachlass fand ich das Gedicht »Warum?«
Warum denn sollen auf getrennten Pfaden
Wir unsre Wege gehn zum gleichen Ziel?
Ist’s Schicksalsfluch, mit welchem wir beladen?
Ist’s eines bösen Zufalls tückisch Spiel?
Wir sind uns fremd, doch keines von uns beiden
Weiß, welche Saite fehlt zur Harmonie.
Was sind es denn für Schranken, die uns scheiden?
Warum, warum denn finden wir uns nie?
Darf ich das Dunkel wohl zu lüften wagen?
Bleibt denn dein Herz und Mund für immer stumm?
O gib mir Antwort! sprich! ich will dich fragen
Mit meiner Seele ganzer Glut: Warum?
Ich hätte die gleiche unausgesprochene Frage stellen können, auf die beide keine Antwort wussten. So weit ich durch den Nebel der Vergangenheit stoßen kann, sehe ich die Entfremdung bis auf die Übergangszeit vom Knaben zum Jüngling zurückgehen. Zwar hatte es für Edgar keine Flegeljahre wie für den wilden Alfred gegeben, dafür war er zu zart und zu vornehm, aber es trat ein vorübergehendes Stocken seiner Entwicklung ein, dass ihm die nur wenig jüngere Schwester, wie es beim weiblichen Geschlecht natürlich ist, um eine Wegstrecke voranlief, sowohl was die geistige Reife als was die körperliche Länge betrifft. Zugleich erlebte er, dass ich blutjung, wie ich war, doch von den männlichen Besuchern des Hauses schon mit Aufmerksamkeiten umgeben und von ihm abgedrängt wurde, während er noch als halber Knabe danebenstand. Gewiss hat er mit seinem reizbaren Ehrgefühl dabei mehr gelitten, als ich ahnen konnte und als er ahnen ließ. Wenn er mir mit nassen Augen die Niedernauer Balltrophäen vom Arme riss und in das vorbeifließende Bächlein warf, so fühlte ich mich als unschuldige Zielscheibe einer knabenhaften Laune, und wenn er dann gar noch eine Streitschrift gegen das Tanzen verfasste und drucken ließ, so sah ich darin nur das Anzeichen einer wachsenden Schrullenhaftigkeit, der ich bestrebt war auszuweichen. Dass in ihm etwas riss und blutete, sah ich nicht, denn er zog eine Dornenhecke um sich, der niemand nahen konnte. Vielleicht geschah es, weil er im Grunde eine weichere Natur war als ich und weil er Weichheit für unmännlich hielt. Und als gar seine leidenschaftliche Jünglingsfreundschaft mit unserem Ernst Mohl an seinem Anspruch des Alleinbesitzens in Stücke ging, gab es fortan für ihn keine Gefühlsäußerung mehr. Wie er als Kind unter allen Geschwistern allein ein verschließbares Kästchen besessen hatte, worin er seine kindlichen Herrlichkeiten, wie Farbenschalen, bunte Bleistifte und blinkende Rechenpfennige, bewahrte und in das auch ich, die er am meisten liebte, nur in seltenen Stunden einen Blick werfen durfte, so trug er später sein ganzes inneres Leben als verschlossenen Schrein mit sich, nur je und je der Muse sich im Tiefgeheimen offenbarend, dass nicht einmal seine Mutter sich ihm mit einer Zärtlichkeit zu nahen wagte. Aber die Fremdheit zwischen uns war nur eine scheinbare, die innere Wärme dauerte auch unausgesprochen bis zuletzt. Nicht einmal die Ehe vermochte sie wirklich zu zerstören, diese gefährlichste von allen Bindungen, die jede andere Bindung durch den bloßen Tropfenfall des Alltags auflöst, wie es kein Sturm der Leidenschaft vermag; die aus einem Ganzen eine Hälfte macht, oft genug aus einem großen starken Ganzen die Hälfte eines kleinen und schwachen, auch sie rüttelte nicht wahrhaft an dem angeborenen Band. Und immer blieb die Aussicht, man würde sich in späteren Jahren wieder näher und besser verstehen. Und nun mit einem Male alles vorüber? Das ganze Spiel zwischen Tod und Leben schien mir so maskenhaft und unwahrscheinlich. Denn da stand noch immer die Gestalt meines Bruders neben dem Wachsbild auf dem Lager, völlig unversehrt und gegenwärtig, von Geist strahlend; ich suchte mir die Vorstellung seines Nichtmehrseins einzuprägen, aber es gelang mir nicht. War es eine Schwäche der Empfindung? Hatte es eine tiefere metaphysische Ursache? Ich konnte bei keinem Todesfall wahrhaft trauern. Niemand starb mir je. Ich glaubte im tiefsten Innern nicht an den Tod.
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