Wie ein gespenstisches Trauerspiel
Weht’s dich an und umhüllt dich mit Schauern,
Alle Kraft verzehrt sich in Trauern
Um ein Opfer, das nirgends fiel.
Kennst du das Stück?
Nein, und kennst der Spieler nicht einen,
Aber weinen musst du und weinen
Um ein verlorenes
Und doch nie besessenes Glück.
Eine Schuld, die du nicht begangen,
Bleicht dir die Wangen,
Ein Vergangnes, das nie gewesen,
Hält dich und lässt dich nimmer genesen. – –
Gegen solche innere Verfolgung gab es keine andere Zuflucht als die ins Werk.
*
Das erste, was die Gunst der neuen Wohnung mir bescherte, war die Vollendung der »Stadt des Lebens«. Dann formte sich der Inhalt eines neuen Novellenbandes, der unter dem nicht ganz entsprechenden Titel »Lebensfluten« bei Cotta erschien. Er sollte zuvor »Den Strom hinunter« heißen nach der Anfangserzählung, die diesen Titel im doppelten Sinne trug. Aber Heyse bat mich, darauf zu verzichten, weil er selbst im Begriffe stehe, ein Novellenbuch unter dieser Flagge segeln zu lassen. Die Rücksichtnahme war selbstverständlich, aber ich geriet in Verlegenheit um einen neuen Titel, bis man sich nach wiederholter Verhandlung mit dem beiderseitigen Verleger, der kein anderer war als der alte Freund Kröner, jetzt Cotta Nachfolger, sich auf »Lebensfluten« einigte, ein Notbehelf, der von dem wechselvollen Inhalt nichts aussagen konnte als das wechselvolle Spiel des Lebens selbst.
In dem stillen Glasgemach, beim Rinnen des Arno, während das nächtliche Florenz im Sternenschimmer lag, fügte sich mir nach und nach die zweite Folge meiner Gedichte. Manches davon war schon in den guten Jahren am Poggio Imperiale entstanden. Immer wenn der zarte Geist der Lieder auf seinen Schmetterlingsflügeln erschien, den das Tun des Tages so gerne verscheucht, musste auf Wochen die Feder, die Prosa schrieb, ruhen, denn er brachte seine Gaben nie vereinzelt, sondern reihte sie, Heiteres und Ernstes, in vielfarbigen Ketten auf. Er war noch immer gleich launenhaft und gleich erfüllend. Rufen ließ er sich nicht gern, denn es bleibt immer etwas Unwägbares um das Gedicht, und was ich in ahnender Jugend darüber gesagt hatte: »Von Menschen ist es nicht gemacht, es wächst mit andrem Blumenflore, gefunden wird’s und nicht erdacht«, das bestand mir noch immer in gewissem Sinne zu Recht. Das Gedicht kommt viel weiter her, als Uneingeweihte ahnen, und es ist früher als sein menschlicher Anlass. Dieser lockt es nur hervor, aber es braucht ihm gar nicht genau zu entsprechen, wie ja männiglich bekannt, dass Goethes Lied an den Mond: »Füllest wieder …« durch den Selbstmord eines jungen Mädchens, das ihn persönlich nichts anging, veranlasst wurde. Zuweilen tritt es gar stückweise heraus, Jahre können dazwischen liegen, bis die getrennten Glieder sich von selbst zusammenfügen. So stand ich einmal hoch oben in den Apuanischen Alpen am Fenster meines Gasthofs und sah in die Mondnacht hinaus. Da sprach eine Stimme in mir selbst den Vers:
Jede Nacht hört sie’s vorübertraben,
Jede Nacht den Reiter mit dem Knaben –
Ich horchte auf und begann der Stimme nachzugehen, aber sie schwieg und gab nichts weiter her. Durch Jahre konnte ich nicht erfahren, was es mit dem Reiter und dem Knaben für eine Bewandtnis habe. Nachdenken half nichts, es wehte vielmehr die Schmetterlingsflügel weit hinweg; der Fund musste sich ereignen . Und er ereignete sich wirklich ganz plötzlich einmal im Zug einer wochenlangen lyrischen Erregung, nachdem schon eine Reihe von anderen Gedichten entstanden waren. Von selbst entstanden, aber zurechtgehämmert, denn völlig fertig fallen sie ja nicht vom Himmel, der menschliche Angstschweiß gehört mit dazu. Nun erfuhr ich erst den Inhalt der Ballade »Der schwarze Reiter«, wovon mich zwei umherflatternde Zeilen voreilig gestreift hatten, von dem heimlich verscharrten Geliebten und dem im Mutterleib getöteten Kinde, das seine Mutter ruft.
Die hohe, festlich hohe Zeit solcher lyrischen Offenbarungen wurde jedes Mal zu frühe, wenn noch die Stimmen raunten, durch irgendeinen äußeren Eingriff aus persönlichen Bereichen abgeschnitten; dann half kein Horchen mehr, es war alles jählings zu Ende, und ich konnte mich wieder langsam auf die erzählende Gestaltung umstellen.
Über den Prosaarbeiten fielen je und je gedankliche Splitter ab, die ich nicht mitverarbeitete, um nicht den schwebenden Gang der Erfindung durch zu viel Gedachtes zu belasten. Ich schrieb jedoch zur Erinnerung für mich selber auf, was mir da geblitzt hatte und wofür ich keinen Abnehmer besaß als das Papier. Dabei wurden die Einfälle gelegentlich zu Ausführungen über dies und jenes erweitert, bis eines Tages ungewollt eine ganze Sammlung solcher ungesuchter Eingebungen, teils aus knappen Aphorismen, teils aus längeren Gedankengängen bestehend, fertig lag, die unter dem auf das Eingangsgedicht bezogenen Titel »Im Zeichen des Steinbocks« 1905 erstmalig erschien. Wer heute das kleine Buch, das unlängst bei Rainer Wunderlich in dritter Auflage neu herauskam, stark gekürzt, aber inhaltlich unverändert, zur Hand nimmt, ohne das erste Erscheinungsjahr oder gar die noch früheren Entstehungsjahre zu kennen, der kann leicht auf den Verdacht einer öden Konjunkturhascherei verfallen, wenn er Hinweise und Anschauungen liest, die dem deutschen Weltbild von heute abgelauscht scheinen, ihm aber in Wahrheit um zwanzig Jahre vorangegangen sind. Und wieder einmal muss ich mich verwundern, wie in der kurzen Spanne eines Menschenalters gesellschaftliche und staatliche Wertsetzungen, die für unumstößliche Grundpfeiler gegolten hatten, sich in ihr völliges Gegenteil verkehren können. Was ich als hohes Beispiel an der Stammesethik der Griechen und ihren daraus hervorgehenden eugenetischen Maßnahmen pries, das zog mir den empörten Aufschrei des geistigen Philistertums zu. Jener selbe literarische Gönner an der »Ulmer Post«, der meine ersten Gedichte so warm empfohlen hatte, mit der apologetischen Versicherung, dass ich außer dem Dichten auch das Nähen und Kochen verstünde, sagte mir seine Gunst auf und fand die ausgesprochenen Leitgedanken abstoßend. Heute sind sie zum Teil gesetzgeberische Wahrheiten. Was ich von fernen Jahrhunderten erhoffte, lag von niemand geahnt schon in der Richtung eines unsichtbar näher kommenden Geschehens.
Die Aphorismen, für die ich nicht leicht ein älteres Verlagshaus hätte gewinnen können, wurden Anlass zu meiner Verbindung mit dem eben aufkommenden vielversprechenden Georg-Müller-Verlag in München, der eine sorgfältige Ausgabe veranstaltete mit einer von befreundeter Hand entworfenen Titelzeichnung. Derselben Stelle dachte ich auch das Werk zu, das ich nach langem Verschub jetzt endlich in Angriff nehmen musste, sollte mir nicht die Erinnerung verblassen: die Lebensgeschichte meines Vaters. Es war nicht ganz leicht, außerhalb des Bereichs literarischer Hilfsmittel, bei nur sehr mäßigem Rüstzeug an brieflichem und sonstigem schriftlichem Nachlass, an dieses verantwortungsvolle Unternehmen heranzutreten. Ich verließ mich dabei vor allem auf das ausgiebigere Gedächtnis der zwei älteren Brüder, von denen ich hoffte, bei den nächsten Sommerferien in Forte dei Marmi, wohin auch Alfred des öfteren zu Gaste kam, manche wesentlichen, von mir vergessenen oder vielleicht gar nicht gekannten Züge erkunden zu können. Aber jetzt eben holte das Schicksal zu dem Schlage aus, der den ganzen Neubau meines Lebens im Grund erschüttern und in seinen Folgen eine weite Verwüstungszone um mich schaffen sollte.
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