Zu der Geschichtsforschung, in deren Bannkreis wir getreten waren, gesellten sich auch die Vertreter der Kunstgeschichte, die den ehemaligen, jetzt ganz verschwundenen literarischen Kreis ablösten, und ein jüngeres Künstlergeschlecht trat an die Stelle des vorigen, das wie jene das Echte und Große suchte, wenn es auch keine Namen wie Böcklin und Stauffer hervorbrachte.
Auf einer Villa außerhalb der Porta San Giorgio wohnte ein Maler-Prinz mit seiner schönen bürgerlichen Gemahlin, der Tochter eines deutschen Dichters, die leibhaft aus dem Märchen von der Hirtin und dem Königssohn herausgetreten schien. Hoch über Frauengröße gewachsen, mit schmalem, rosigem Kindergesicht, um das ährenfarbige Flechten lagen, und dem seltsam wiegenden Gang eines Schwans auf trockenem Boden, den Böcklin rühmte, konnte man sie sich auf einer Heide unter sprechenden Tieren denken. Schicksallos und glückdurchsättigt schien die Seele noch in ihr zu schlafen. Mit den Jahren, als ein Kranz von urgesunden Putten um sie wuchs, vertiefte sich ihre Schönheit, und ihre anerkannte Stellung innerhalb einer regierenden Familie gab ihr die stille Selbstverständlichkeit, mit der sie sich gleichmäßig wie ein Planet in seiner sicheren Bahn bewegte. Nur manchmal schien sie’s zu überschauern, ob ihr Glück nicht ein allzu gewagtes sei: so als ahnte sie schon das große, dereinst dem Vaterlande zu bringende Opfer, das die langsam reifende Zeit für sie im Schoße trug. Beiderseits am Viale wohnend hielten wir gute Nachbarschaft, und ich verbrachte einmal, von dem prinzlichen Paare eingeladen, in ihrer Abwesenheit einige schöne Wochen mit Mama auf ihrer Villa außerhalb der Porta San Giorgio. Dort erlebten wir das große Erdbeben vom 18. Mai 1895, dem, wenn es wenige Sekunden länger gedauert hätte, die halbe Arnostadt zum Opfer gefallen wäre. Noch durch einen zweiten unverwischbaren Eindruck ist mir dieser Aufenthalt merkwürdig geblieben. Ich fand in der kleinen Bücherei des Prinzen den von Carmen Silva übersetzten sogenannten »Rhapsoden der Dimbowitza«, unter welch schlechtgewähltem Titel sich ein rätselhaftes aber unschätzbares Juwel verbarg. Die Wirkung dieses Fundes war eine solche, dass ich tagelang wie im Traum umherging, als hätte die Erde zum zweiten Mal unter mir gebebt. Noch nie, so schien mir, hatte ich das Angesicht der Poesie in so erschütternder Nähe gesehen, und ich teilte für lange Zeit die Menschen in solche ein, die von der Naturgewalt dieser Lieder berührt wurden, und die anderen, die nichts dabei empfanden. Wenn ich heute den Eindruck auffrische, den ich damals empfing, so geschieht auch dies unter dem Zwang einer Verpflichtung, um so mehr als ein unverständlicher königlicher Wille den herrlichen Findling zuerst unter falscher Marke in die Welt schickte, um ihn nach kurzem Dasein aus gleichfalls unverständlichen Gründen auszulöschen und der Vergessenheit zu überliefern. Schon der erste beschwingte Auftakt in der Stimme des Feuers:
Ich hab den grünen Wald verzehrt
Mit allen seinen Liedern,
Und alle Waldeslieder
Die singen jetzt in mir –
ließ ein Außerordentliches an Unmittelbarkeit ahnen. Und nun quoll es aus allen Blättern mit einer Frische und Ursprünglichkeit, dass die ganze welke Zivilisation versank und die Urweltfrühe, der Mensch mitten inne, wie nur eben aus der Schöpferhand gekommen und noch von den ersten Göttern behütet, heraufstieg. Und so oft ich auch später das Buch wieder aufschlug, immer befiel mich der gleiche freudige Schauer aufs neue. Wen sollte es nicht überrieseln, wenn der Schlaf sagt:
Das Mädchen spricht zu mir: o du hast des Geliebten Antlitz,
Die Gattin sagt: o du hast meines Mannes Stimme.
Der Tod erlaubt mir in dem Grab zu suchen,
Auf dass ich bringe die, so lange schlafen,
Zu denen, die nur schlafen eine Stunde. –
Und so fort mit immer neuen Überraschungen bis zur völligen Ausschöpfung des Gegenstandes. Die gleiche Unmittelbarkeit und das allseitige Beleuchten geht auch durch das Gedicht an den Grabstein:
Du bist so weiß, auf dass von weitem
Ich dich erblicke.
Du bist so kalt, um meine Küsse
Zu entfernen.
Und wenn ich komme, seh ich dennoch dich
Von weitem nicht,
Weil stets ich weine.
Du bist so jung wie Schnee.
Und fernerhin:
Du glaubst auch an die Blumen nicht,
Du siehst sie sterben,
Noch an den Schmerz, den siehst du sterben auch. –
In diesem Lied fällt noch ein anderes Merkmal der Sammlung, die zarte Scheu des Gefühlslebens, auf, die den Toten nur durch eine Umschreibung zu nennen wagt:
Du tust, als wüsstest nimmer du, was in dir ist,
Und dass ich kam für das, was in dir ist.
Und weiter unten:
Niemals sagst du dem, was in dir ist,
Wer auf dir weint.
Ebenso in »Blumenkind« der Findling, der nicht sagen will: »Mein Mütterlein ist tot«, sondern: »Ich bin der Sohn der Erde«, weil ein wenig Erde das Grab zudeckt. Es ist, als müsste durch solche Ausweichungen der Schmerz eingeschläfert werden, eine Regung, die nachzufühlen nur den zarteren und tieferen Seelen gegeben ist.
Ein Lied von süßester Schönheit ist das »Heu«. In diesem Lied hat die unbewusste Kunst einen ihrer höchsten Gipfel erreicht. Zwei verwandte Leitgedanken: das Welken der gemähten Blumen und das Welken der Jugend, spielen schillernd umeinander, und über dem Ganzen liegt die wonnevolle Wehmut des scheidenden Hochsommers. Das Heu singt, nachdem es seinen letzten Tau getrunken hat und von den Mädchen in Schlaf gesungen wurde:
Blumen, die noch in mir sind von gestern,
Haben Raum gemacht den Blumen
Morgen,
Und die Mädchen, die zu meinem Tod gesungen,
Weil sie Jugend haben,
Werden weichen all den Mädchen,
Die da kommen.
Ihre Seele wird wie meine Seele
Voll von Düften bleiben,
Und die Mägdlein, die erst morgen kommen,
Wissen nimmer, dass auch ich geblüht.
Andre Blumen werden sie erblicken – –
Und so fort bis zu dem in tiefen Molltönen verklingenden Schluss, der das getröstete Aufgehen in die vernichtende und neugebärende Natur ausspricht. Ein Duft steigt aus diesem Gedicht hervor, süß und berauschend wie aus sonnedurchtränktem Heu.
Am gewaltigsten wird die Unmittelbarkeit, wo das Innerste der weiblichen Seele sich offenbart; auch sind die Lieder in der Mehrzahl Frauen in den Mund gelegt, ja noch mehr, sie sind alle in ihrer Grundhaltung weiblich empfunden. Aber nicht die Liebe zum Mann erscheint als Mittelpunkt des Frauenlebens, sondern wie in meiner »Carlotta« der Urtrieb nach Mutterschaft. Unerschöpflich und mit entzückender Naivität kehrt dieses Thema wieder, so in dem Gedicht »Fragen«, wo die Tote nach allem fragt, was auf Erden geschieht, und endlich:
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