Die Macht der Kirche in England, so steht es in den Briefen, war nach den langen Jahren der mit großer Grausamkeit geführten Religionskriege geschwunden. Es herrschte religiöse Toleranz, über die man sich, bedachte man die Macht der Katholischen Kirche in Frankreich, nur wundern und freuen konnte: »Dies ist das Land der Sekten: Multae sunt mansiones in domo patris mei.1 Ein Engländer spaziert als ein freier Mensch, auf welchem Weg es ihm beliebt, in den Himmel.« Es war ein Staat, der seine Angelegenheiten ohne Zutun der Geistlichkeit zu regeln versuchte. »Wenn in England nur eine Religion herrschte, so würde ihre unumschränkte Gewalt zu fürchten sein; wären es ihrer zwei, so würden sie sich einander die Kehle abschneiden; sie sind aber wohl an die dreißig und leben alle friedlich und glücklich.« Die Gesellschaft in England war offen und pluralistisch. Jeder konnte nach seiner Façon glücklich werden. Das war in Voltaires Augen die Grundlage einer zivilisierten Gesellschaft, die Frankreich so schmerzlich (für Außenstehende) abging.
Voltaire musste nicht nach England kommen, um vom Glauben abzufallen. Die Kirche war von jeher das Lieblingsziel seines Spottes. Was er dort lernte, war die segensreiche Rolle, die Händler, Kaufleute und Unternehmer spielten. »Man gehe auf die Börse in London, einen Platz, welcher ansehnlicher ist als manch ein Hofstaat, wo sich die Abgeordneten von allen Völkerschaften einfinden, um die Wohlfahrt der Menschen zu befördern. Hier treten der Jude, der Türke und der Christ miteinander in Unterhaltung, als wären sie Glaubensgenossen, und nennen nur denjenigen einen Ungläubigen, welcher bankrott ist. Hier vertraut der Presbyterianer dem Wiedertäufer, und der Anglikaner nimmt von dem Quäker Versprechungen entgegen. Beim Verlassen dieser friedfertigen und freien Versammlung gehen einige in ihre Synagogen, andere zum Trinken; jener lässt sich in einer großen Kufe im Namen des Vaters, durch den Sohn, im Heiligen Geist taufen; dieser lässt seinem Sohn die Vorhaut wegschneiden und murmelt über das Kind hinweg etliche hebräische Wörter, welche er selbst nicht versteht; wieder andere gehen in die Kirche und erwarten mit bedecktem Haupte eine göttliche Eingebung. Und alle sind vergnügt.« Die Börse beschäftigte und befriedete die Menschen, die sich normalerweise, und sei es aus alter Gewohnheit, an die Kehle gingen. Der Handel sozialisierte sie in einer Weise, wie es der Religion jedenfalls nie gelungen war, so sehr sie auch den Frieden und die Nächstenliebe gepredigt hatte. Auf dem Markt versuchte sich niemand in Brüderlichkeit und doch war sie das Ergebnis.
In England standen die Kaufleute in höchstem Ansehen und das Land war durch sie wohlgeordnet, frei und reich geworden. »Die Kaufmannschaft hat durch ihren mitgebrachten Reichtum die Engländer zu freien Leuten gemacht, und diese Freiheit hat zur Ausbreitung des Handels vieles wieder beigetragen, und somit gedieh der Staat zu seiner Größe. Die Kaufmannschaft war es, welche die Seemacht nach und nach empor brachte, wodurch sich die Engländer zu den Herren der See gemacht haben … Alles dies erfüllt einen englischen Kaufmann billigerweise mit Stolz, so dass er sich nicht ohne Grund mit einem römischen Bürger in Vergleich setzen darf. So verschmäht auch der jüngere Bruder eines Pairs des Königreiches nicht, Handelsgeschäfte zu betreiben … Als Mylord Oxford England regierte, betrieb sein jüngster Bruder eine Faktorei zu Aleppo, von wo er nicht zurück verlangte und woselbst er auch starb.« Die Engländer hatten erkannt, dass das Streben nach individuellem Wohlstand das Land weiter bringt als die Knute des Adels oder die Heilsversprechungen der Kirche. »In Frankreich kann jeder, der will, ein Marquis sein … und einem Kaufmann auf seine gebieterische und verächtliche Art begegnen. Der Kaufmann hört so oft von seinem Berufe abschätzig sprechen, dass er töricht genug ist, bei solchen Reden schamrot zu werden. Dennoch weiß ich nicht, welcher von beiden einem Staate nützlicher ist: Der wohlgepuderte Herr, welcher genau sagen kann, wann der König aufsteht und wann er sich niederlegt, und welcher sich dadurch ein Ansehen verschaffen will, dass er in dem Vorzimmer eines Ministers die Rolle eines Sklaven spielt, oder der Kaufmann, der sein Land bereichert, in seiner Schreibstube Verhaltensbefehle nach Surat und nach Kairo schreibt und das Seinige zur Wohlfahrt der Welt beiträgt.«
Zu dieser Zeit lag in England die Industrielle Revolution in der Luft. Es bildeten sich zentrale Werkstätten, die vom Umland mit handwerklichen, meist noch in häuslicher Arbeit hergestellten Vorprodukten beliefert wurden. Daraus entwickelten sich Fabriken, die immer mehr und immer billiger produzierten. Voltaire erkannte sehr hellsichtig, dass dieser Entwicklung die Zukunft gehörte und dass der Staat gut beraten wäre, sich darauf einzustellen. Das galt auch für die Franzosen, wollten sie von den Engländern nicht endgültig abgehängt werden.
In Voltaires englischer Weltsicht musste die Politik ökonomisch werden. Die Ökonomie hörte damit auf, eine Randerscheinung und Lehre für brave Haus- und Landwirte zu sein. Sie wurde in den Philosophischen Briefen zum ordnenden Element der Gesellschaft, welche sich den Wohlstand zum Ziel setzte und damit mehr erreichte als alle Gebete Frankreichs um das Paradies. Voltaire verheiratete die Ökonomie mit der Politik und schuf damit den Ausgangspunkt jener erstaunlichen Entwicklung, welche die aufgeklärte Welt ab der Mitte des 18. Jahrhunderts nahm. Indem die Ökonomie politisch wurde, war das Streben der Menschen nicht mehr auf das Jenseits, auf ein versprochenes Paradies ausgerichtet, sondern auf den Wohlstand im Diesseits. Das Paradies war nichts, worauf sich zu warten lohnte, wenn sich auf Erden ein guter, realer und vor allem sicherer Ersatz finden ließ.
Die Industrielle Revolution war ein ebenso politisches wie wirtschaftliches Projekt. Sie konnte nur gegen die Interessen der herrschenden Eliten stattfinden, denn sie bedeutete den Übergang von Macht und Wohlstand vom Adel auf das Bürgertum. Ohne Institutionen, die Eigentumsrechte durchsetzen, konnte kein Wohlstand wie in England entstehen – aber diese Institutionen schränkten die Macht des Königs ein. Ebenso wenig konnte Wohlstand ohne breiten Zugang zu den Märkten entstehen, durch den Konkurrenz und damit bürgerlicher Fleiß befeuert wurde. Das aber bedeutete Freiheit, Gleichheit und die Beschränkung von Privilegien, was dem alten Adel ebenfalls nicht schmecken konnte. Aber er nahm es hin. In England wurden die staatlichen Institutionen und die Ökonomie aufeinander abgestimmt, mit enormem Erfolg. Das ist die Zukunft, so schreibt Voltaire in seinen Briefen nach Hause, und wenn ihr nicht untergehen wollt, dann macht es wie die Engländer!
Die Ökonomie war auch vor Voltaire schon eine ehrwürdige Disziplin gewesen. Aristoteles etablierte sie als eine Lehre von der Hauswirtschaft, aber nach diesem vielversprechenden Beginn dümpelte sie unbeachtet durch zwei Jahrtausende. Im Barock entstand die eine oder andere ökonomische Schule, aber nichts von Bedeutung. Erst durch die Verbindung mit der Politik, wie sie in den Philosophischen Briefen ganz zwanglos und ohne große theoretische Fanfare geschah, fand die Ökonomie den Grund und die Stellung, wodurch sie zu dem wurde, was sie heute ist. Die Aufklärung bekam dadurch eine ganz eigene Disziplin, an der sie zwar oft genug verzweifelte, die ihr aber ein unverzichtbares Vehikel für die Verbreitung ihres Gedankenguts wurde. Der Wohlstand einer Nation war nun Teil der Frage nach der richtigen Regierung. Die politische Ökonomie, wie sie bald hieß, war nicht mehr nur, wie ihre Vorgängerdisziplinen, ein Glas, durch das die Gesellschaft betrachtet wurde, sondern ein Werkzeug, mit dem sie sich selbst veränderte. Den Beginn machte Voltaire und in diesem Sinne war sein Besuch in England »ein Wendepunkt in der Geschichte der Zivilisation«, wie Lytton Strachey ehrfurchtsvoll befand.
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