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Während Lena Ventus immer noch umarmte, erinnerte er sich an die Momente nach seinem Tod. Jedes Mal, wenn er das tat, hatte er das Gefühl, eine schöne Reise zu machen.
Ventus spürte an seinem Gesicht einen angenehmen Luftstrom und öffnete seine Augen. Er schaute sich neugierig um und stellte fest, dass er auf einem Rasen lag. Nun guckte er irritiert. Der Grund war, dass er sich immer noch gut an Lenas verzweifelten und traurigen Blick erinnern konnte, bevor er gestorben war. Das Pferd hatte das Gefühl, dass das eben erst geschehen war.
Er stand auf und betrachtete die Umgebung genauer. Die Wiese war sehr groß. Darauf befanden sich Pflanzenarten, die er vorher noch nie gesehen hatte. Die Gerüche waren ihm neu und dufteten sehr angenehm. Erst in weiter Ferne konnte er Bäume entdecken. So was hatte er vorher noch nie gesehen. Die Landschaft machte einen sehr friedlichen Eindruck, die Luft hatte einen angenehmen Geruch. Er hätte ihn in Worten schwer beschreiben können, weil er sich ständig veränderte.
Ventus spürte schnell, dass dieser Ort etwas Magisches hatte. Auch empfand er das Gefühl von Geborgenheit. Es lag schon sehr lange zurück, dass er dieses schöne Empfinden erlebt hatte. Nun betrachtete Ventus seinen Körper und war erstaunt. Alle Verletzungen waren verschwunden. Er fand, dass sein Fell nun deutlich schöner aussah im Vergleich zu seinem alten Leben.
Plötzlich nahm er wahr, dass ein schönes Wesen vor ihm gelandet war. Mit großem Staunen blickte das Pferd auf ein weißes Einhorn mit Flügeln, dessen Mähne und Schweif grau waren und das ein silbernes Horn hatte. Ventus guckte es neugierig und respektvoll an. Die Schönheit des Einhorns beeindruckte ihn sehr.
Das Zauberwesen sprach mit einer angenehmen Stimme zu ihm: „Hallo, ich bin Salva. Ich hoffe, dass mein Erscheinen dir keine Angst gemacht hat. Falls doch, war das von mir nicht beabsichtigt. Ich bekam die Aufgabe, dir diesen Ort genauer zu zeigen und dir zu erklären, was mit dir noch geschehen wird.“
Das Pferd starrte den Einhornhengst kurz verwirrt an. Dann äußerte es sich nervös: „Ich bin Ventus. Du hast mir keine Angst gemacht, dein Auftauchen hat mich eher verdutzt. Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Ehrlich gesagt hatte ich mir das Jenseits anders vorgestellt. Bist du ein Einhorn? Wie wird es denn mit mir weitergehen?“
Das Einhorn schaute ihn freundlich an. „Ich bin ein Alicorn, das ist eine besondere Einhornart. Damit sind Einhörner mit Flügeln gemeint. Jetzt muss ich aber erst einmal ein Missverständnis klären: Der Ort, an dem wir uns befinden, ist nicht das Jenseits. Du sollst wissen, dass du wieder lebst!“
Nachdem Ventus den letzten Satz gehört hatte, starrte er Salva eine Weile mit einem verdutzten Gesichtsausdruck an. Viele Gedanken schossen durch seinen Kopf. „Vielleicht sehe ich Lena wieder“, dachte er voller Hoffnung. Stotternd sagte er zu Salva: „Ist das wirklich ernst gemeint? Ich bin doch ein Niemand. So was verdient doch nur jemand, der etwas Besonderes getan hat.“
„Ja, das habe ich wirklich ernst gemeint. Du bist kein Niemand, denn du hast etwas Besonderes getan. Deshalb hast du dein Leben zurückbekommen. Wir sollten erst mal losgehen, weil sich jemand mit dir unterhalten möchte. Ihr sollt klären, wie es mit dir weitergehen soll. Unterwegs erzähle ich dir etwas über diesen Ort und über meine Lebensgeschichte“, erklärte Salva ihm.
Während sie schlenderten, schaute sich Ventus mit großer Neugier genauer um. Das Pferd stellte schnell fest, dass es keine Waldtiere gab. Es konnte keinen Geruch von ihnen wahrnehmen. Darüber war es sehr erstaunt.
Das Wetter fühlte sich sommerlich an. Dabei erinnerte Ventus sich daran, wie er mit Lena zu dieser Jahreszeit zu einem See geritten war. Das hatte er gerne mit seiner einzigen Freundin gemacht.
Er erkannte, dass die ganze Landschaft unberührt war, dass niemand sie verändert hatte. Dann hörte Ventus die Stimme von Salva: „Das Besondere an diesem Ort ist, dass man hier nicht altern kann. Der Grund ist, dass die Zeit im wahrsten Sinne des Wortes stillsteht. Alles, was du siehst, ist das Reich des Löwen Yellow Destiny. Du wirst dich noch mit ihm unterhalten. Du brauchst vor ihm keine Angst zu haben, wenn du ihm begegnest. Als ich ihn zum ersten Mal getroffen habe, habe ich große Furcht vor ihm gehabt. Im Nachhinein betrachtet war das ganz unbegründet gewesen.“
Ventus guckte sehr nachdenklich wegen dieser Äußerung. Er musste wieder an Lena denken. Sein Gefühl sagte ihm, dass seine Freundin sicher sehr traurig über seinen Tod war. Dann meinte er zu Salva: „Ehrlich gesagt bin ich unsicher, was ich von dem Treffen halten soll. Kannst du mir konkret sagen, worüber ich mit Yellow Destiny reden werde?“
„Du wirst dich mit ihm über dein Schicksal unterhalten. Du sollst selbst entscheiden, wie es aussehen soll. Deshalb werde ich gleich etwas über mich erzählen. So bekommst du eine Vorstellung, was dich erwarten wird.“ Salva schaute ihn freundlich an.
„Bevor du das tust, habe ich eine wichtige Frage. Vor meinem Tod war ich mit einem Mädchen namens Lena sehr gut befreundet. Werde ich sie wiedersehen? Das möchte ich unbedingt wissen, weil es für mich sehr wichtig ist“, sagte Ventus und guckte das Einhorn fragend an.
„Das musst du Yellow Destiny selbst fragen. Ich vermute, dass du deine Freundin wiedersehen wirst. Bedeutet sie dir viel?“
„Ja, sie bedeutet mir sehr viel. Sie hat mich vor einem Bauern gerettet. Er wollte mich töten lassen. Ich verdanke ihr mein Leben. Nach meiner Rettung ging es mir sehr schlecht und sie pflegte mich liebevoll gesund. Ich bin überzeugt, dass sie über meinen Tod sehr traurig ist, darum möchte ich sie wiedersehen. Sie soll wissen, dass ich am Leben bin“, seufzte Ventus.
Nachdem beide eine Weile geschwiegen hatten, nahm Ventus Salvas Stimme wahr. „Dann erzähle ich dir jetzt etwas von meiner Lebensgeschichte. Früher war ich wie du ein Pferd. Du sollst wissen, dass mein Leben als Pferd sehr traurig und schmerzvoll war. Ich wurde von ein paar Menschen arg schlecht behandelt. Von einem Bauern wurde ich übel gepeitscht. Dieser Kerl wollte mich zum Schlachter bringen. Jedoch wurde ich von einer Frau namens Susan gerettet. Sie brachte mich zu ihrem Gnadenhof und kümmerte sich sehr liebevoll um mich, pflegte mich, soweit es ging, gesund und nach sehr langer Zeit verspürte ich das Gefühl von Geborgenheit. Später tauchte das Alicorn Mystic Blue dort auf. Es heilte mich von meinen körperlichen und seelischen Verletzungen. Dasselbe machte es selbstverständlich auch bei den anderen Tieren. Aus Dank wollte ich es begleiten. Ich erfuhr von ihm, dass seine Artgenossen gefangen worden waren und sterben sollten. Bei der Rettung half ich mit. Mein Ansporn war, dass ich etwas tun wollte, worauf ich stolz sein konnte. Bei der Befreiung wurde ich allerdings getötet, als ich mich schützend vor ein Einhorn stellte.“
Ventus schaute Salva noch interessierter an, nachdem er seinen letzten Satz gehört hatte. Er hatte eine Vermutung, was ihn bei dem Gespräch mit dem Löwen erwarten würde. In seinem Inneren fühlte er ein Kribbeln.
Salva bemerkte seine Reaktion und grinste ihn kurz an. „Nachdem ich gestorben war, fand ich mich hier wieder und war wie du auch der Meinung, ich befände mich im Jenseits. Yellow Destiny tauchte unerwartet aus dem Nichts auf und hat mir erklärt, dass ich wieder lebte. Wir unterhielten uns darüber, wie mein Schicksal aussehen sollte. Da sich der Kampf um das Leben der Einhörner in einer sehr kritischen Situation befand, gab es für mich nur eine Option. Ich wollte stärker ins Geschehen eingreifen. Deshalb war ich damit einverstanden, dass Yellow Destiny mich in ein Alicorn verwandelte. Am Ende wurde der Kampf gegen die Feinde gewonnen. Durch die Verwandlung konnte ich später mein Leben besser genießen. Ich musste natürlich sehr viel trainieren, bis ich meine magischen Fähigkeiten beherrschen konnte. So hast du schon eine Vorstellung, was dich bei der Unterhaltung erwarten wird.“
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