Frau Heidling erkundigte sich bei anderen vertrauenswürdigen Frauen, wie heranwachsende Mädchen zu behandeln seien. »Man soll ja nicht murren«, sagte sie seufzend, »aber es ist doch recht wunderlich vom lieben Gott eingerichtet, dass die Mutter, die die Kinder geboren hat, nachher gar keine Kraft mehr übrig behält, sie auch zu erziehen. Agathe greift mich furchtbar an.«
Überall riet man ihr »die Pension«. Sie sah also, dass das Übel, welches sie quälte, ein weitverbreitetes war, und das beruhigte sie vollständig.
Da sie in ihrem früheren Wohnort, der Hauptstadt der Provinz, mannigfache Beziehungen unterhielt, wandte sie sich dorthin, um von einem geeigneten Institut zu hören. Sie wählte, damit ihre Tochter sich in der Fremde nicht verlassen fühlen möge, die Anstalt, wo sich mehrere frühere Freundinnen von Agathe befanden, unter ihnen Eugenie Wutrow.
*
»Du – gestehe mal gleich, wer ist denn Dein sweetheart ?«
So lautete eine der ersten Fragen, die ihre Mitschülerinnen an Agathe richteten, nachdem die Vorsteherin sie in das Arbeitszimmer geführt hatte, wo die jungen Mädchen mit Heften, Büchern und Handarbeiten um einen großen Tisch saßen.
Agathe lernte bereits seit einem Jahre Englisch, aber das Wort sweetheart war in der Grammatik noch nicht vorgekommen. Das sagte sie schüchtern und wurde furchtbar ausgelacht.
Agathe bewohnte mit Eugenie denselben Schlafsaal. Anfangs wurde sie von der kindischen Furcht beunruhigt, Eugenie könne irgend welche Anspielungen auf die Gespräche machen, die sie als kleine Mädchen miteinander geführt. Aber Eugenie schien die Erinnerung daran vollständig verloren zu haben. Sie war ein hübsches und schon recht elegantes Mädchen geworden. Agathe fasste, zu ihrer eigenen Verwunderung, sofort eine heftige Liebe für sie. Es gab nun kein größeres Vergnügen, als mit Eugenie Wutrow zusammen zu sein, sich an sie zu schmiegen und sie zu küssen. Eugenie behandelte die Zuneigung ihrer Kindheitsgespielin wie die Verehrung eines Mannes. Bisweilen war sie kalt und spröde und wies Agathes Liebkosungen herbe ab. Agathe konnte sie weder durch das Anerbieten, die Rechenaufgaben für sie zu lösen, noch durch schwärmerische Briefe, die sie auf das Kopfkissen ihrer Freundin niederlegte, erweichen. Plötzlich war Eugenie dann aber wieder entzückend nett.
Agathe litt neuerdings viel an Zahnweh und geschwollenen Backen. Wenn sie des Nachts hinter dem Wandschirm – der Schlafsaal wurde in dieser Weise zu verschiedenen Privatkämmerchen geteilt – auf ihrem Lager stöhnte und wimmerte, kam Eugenie mit bloßen Füßen herübergeschlichen, brachte Eau de Cologne oder Chloroform, saß auf ihrem Bettrand und strich ihr langsam und gleichmäßig über die Stirn, bis die Schmerzen nachließen, und Agathe unter der magnetischen Wirkung der weichen Mädchenhand einschlief.
Eugenie war eine praktisch beanlagte Natur, sie erriet in jeder Lage ohne viel Besinnen, was hier zu tun sei. Sie war allgemein beliebt unter den Backfischen. Agathe wurde viel von Eifersucht geplagt, wenn Eugenie mit anderen ging oder wenn sie gar den Arm um die Taille einer anderen legte.
Es war ihr darum auch schrecklich traurig, dass sie in einer Frage, welche die Gemüter der Pensionärinnen heftig erregte, nicht zu der geliebten Freundin stehen konnte. Etwa zehn der jüngeren, die noch nicht konfirmiert waren, hatten Religionsunterricht bei dem Direktor des Instituts, einem Doktor der Theologie und Philologie, Namens Engelbert. Er gehörte dem Protestantenverein an, war aus Gewissensbedenken nicht Geistlicher geworden und sprach seinen Schülerinnen offen die Ansicht aus: er halte Jesus Christus nur für einen Menschen, den richtigen Sohn der Maria und des Josef. Darob entstand ein großer Aufruhr unter den Mädchen. Die Tochter eines englischen Predigers erklärte, ihre Eltern würden sie sofort zurückrufen, wenn sie so etwas von Dr. Engelbert hörten. Agathes frommer Wunderglaube empörte sich gegen eine so nüchterne Auffassung der Erlösungsgeschichte. Dr. Engelbert gab sich aber besondere Mühe, gerade sie zu seiner Ansicht zu bekehren. Es waren nicht viele unter den jungen Mädchen, die weltgeschichtliche Fragen mit einem so persönlichen Interesse erfassten, wie Agathe. Zum ersten Mal wurde sie vor eine selbstständige Entscheidung gestellt, Dr. Engelbert forderte stets Selbstständigkeit von seinen Zöglingen. Agathe blieb hartnäckig ihrem Gott-Heilande treu. Ohne Wunder und ohne das Walten überirdischer Mächte schien die Welt ihr öde und langweilig. Wohin sie schaute, war alles Leben, Geburt und Tod ihr nur ein Wunder, sie fühlte sich umgeben von unbegreiflichen Geheimnissen, an die man nicht zu tasten wagte.
In den Religionsstunden gab es leidenschaftliche Disputationen, unbestimmte, aber desto heftigere Auseinandersetzungen, bis Agathe schluchzte, und auch Dr. Engelbert, einem weichmütigen Idealisten, die hellen Tränen in seinen großen Vollbart liefen. Der Glaubensstreit wurde in den Freistunden und bis in die Schlafsäle hinein fortgesetzt. Eugenie stellte sich gleich auf die Seite von Dr. Engelbert. Sie äußerte, dass nur ein beschränkter Verstand an Wunder glauben könne. Agathe bebte in der Furcht, Eugenie möchte sie für dumm halten und ihr die Freundschaft kündigen. Aber die Aussicht in ein ewiges Leben voll Engelgesang und himmlischer Glorie konnte sie der Freundin doch nicht opfern.
Welches Glück empfand Agathe daher, als Eugenie sie eines Abends in ihr Kämmerchen herüberholte und mit Chokolade fütterte. Eine ältere, aus Gleichgültigkeit gegen alles Deutsche ziemlich duldsame Engländerin führte die Oberaufsicht über den Saal. Außer Agathe und Eugenie schliefen nur noch einige neu angelangte Landsmänninnen der Miss darin.
»Agathe, hast Du schon einmal einen Mann gern gehabt?« fragte Eugenie leise.
»Aber Eugenie, wie kannst Du denn so etwas denken«, flüsterte Agathe erschrocken und wurde dunkelrot.
»Du hast kein Vertrauen zu mir«, sagte Eugenie verletzt und schloss die Schachtel mit der Chokolade in ihre Kommode.
»Geh’ nur, ich bin müde.« Sie blies das Licht aus und legte sich zu Bett. »Wenn Du offen wärest, würde ich Dir auch etwas gesagt haben. Aber Du bist immer so versteckt. Du bist eine Tugendheuchlerin. Ja, das bist Du.«
Eugenie drehte sich nach der Wand. Agathe saß zaghaft im Korsett und Unterrock auf dem Bettrand. Aus den anderen Kammern drang ruhiges Atmen und ein zufriedenes Murren, welches die Engländerin beim Schlafen auszustoßen pflegte. Es war behaglich warm im Zimmer und roch nach Mandelkleie und guter Seife.
Читать дальше