Agathe entschloss sich endlich, zu gestehen, dass sie ihren Vetter Martin gern habe. Sie wollte sich des Vertrauens der angebeteten Eugenie würdig zeigen.
Eugenie hob den Kopf. »Habt Ihr Euch geküsst?«
Agathe beteuerte, dass es nicht »so« wäre; sie habe ihren Vetter ja nur lieber als die anderen Jungen.
Eugenie streckte sich auf ihrem Lager aus und legte den Arm unter den Kopf.
»Agathe, ich habe geliebt!« sprach sie nach einer Weile dumpf und feierlich.
Agathe schlug das Herz wie ein Hammer in der Brust.
»Und – und – hast Du …?«
»Geküsst –; ach – zum ersticken! Und er mich!«
Eugenie hatte sich aufgerichtet, beide Arme um die Freundin geworfen und presste sie heftig an sich. Agathe fühlte, wie das Mädchen am ganzen Leibe bebte.
»Deshalb haben sie mich ja in Pension geschickt! – Aber es wäre doch zu Ende gewesen. Der Erbärmliche! Agathe – er war mir treulos!«
Sie warf sich in die Kissen zurück, aus den Federn drang ihr ersticktes Schluchzen.
»Wer war es denn?«
»Einer aus unserm Comptoir … Weißt Du – das kleine Zimmer, wo die Kisten mit den Zigarrenproben stehen, wo es so dunkel ist – da war es, da haben wir uns immer getroffen. Ach – wie er schmeicheln konnte, wie er süß war und mich auf seine Knie nahm, wenn ich nicht wollte …«
Eugenie küsste Agathe leidenschaftlich und stieß sie dann fort. »Geh, Du bist ein Kind – ich hätte Dir das nicht sagen sollen.«
Agathe beteuerte, dass sie kein Kind sei.
»Schwöre, dass Du es niemand erzählen willst! Auch nicht Deiner Mutter. Hebe die Finger in die Höhe! Schwöre bei Gott!«
Agathe schwur. Sie war ganz betäubt vor Staunen.
»Er wollte mir nachreisen«, stieß die aufgeregte Eugenie hervor.
»Hierher?«
»Er soll nur kommen! Mit den Füßen stoße ich ihn fort! Er hat mich betrogen! Der Schuft! Mit Rosa hat er’s zu gleicher Zeit gehalten, und die hat alles erzählt, aus Rache! Ich hasse ihn!«
»Eugenie – ach Du arme Eugenie! Ich ahnte ja nicht, wie unglücklich Du warst«, flüsterte Agathe mit scheuer Verehrung.
»Nein, man sieht es mir nicht an«, sagte Eugenie. »Am Tage verstelle ich mich. Aber des Nachts –! Da will ich mir oft das Leben nehmen. Wenn ich dies Chloroform austrinke, bin ich tot. Ich trage es immer bei mir!«
Entsetzt riss Agathe der Freundin das Fläschchen mit den Zahntropfen aus der Hand und beschwor sie unter Tränen, um ihrer Eltern und ihrer Freundschaft willen das Dasein zu ertragen.
Sie stand unter dem Zauber der großen klassischen Leidenschaften – Erinnerungen an Egmont, an Amalia und Thekla taumelten durch ihre Fantasie, die Freundin wuchs ihr zu einer unerhörten Größe durch das Geständnis, dass auch sie »gelebt und geliebt« habe.
Nur das rachsüchtige Fabrikmädchen war ihr störend in dieser heiligen Sache. Übrigens glaubte sie nicht, dass der Commis treulos sei. Er würde sicher bald erscheinen und alles aufklären. Aber wenn ihn dann Eugenie mit den Füßen fortstieße? Wenn er sich aus Verzweiflung erschießen würde? Agathe sah tragische Auftritte voraus und lag mit glühenden Wangen und aufgeregten Sinnen noch stundenlang wachend im eigenen Bett. Sie hatte ein Gefühl, als liefen ihr Ameisen leise und eilig über den ganzen Leib. Dabei hörte sie die unruhigen Bewegungen von Eugenie, ihr tiefes Seufzen.
Durch das Träumen über das Geständnis ihrer Freundin schlich sich heimlich die Überlegung, ob sie selbst nicht doch ihren Vetter Martin liebe – so – so – wie Eugenie meinte. Aber es war doch nicht, nein, es war ganz anders – ganz anders.
Endlich schlummerte sie ein.
Plötzlich, nach kurzer Zeit, kam sie wieder zur Besinnung, geweckt von einem großen, brennenden Sehnsuchtsgefühl, welches ihr ganz fremd, ganz neu und schreckenerregend und doch entzückend wonnig war, sodass sie sich ihm einen Augenblick völlig hingab.
»Mani!« murmelte sie zärtlich und verwirrt und faltete ängstlich die Hände. »Ach lieber Gott!«
Sie begann auszurechnen, wie viel Tage es noch bis zu den großen Ferien seien, wo sie ihren Vetter wiedersehen werde.
Darüber schlief sie ein und diesmal fest und traumlos – bis zum Morgen.
*
Agathe musste immer aufs neue staunen, wie stark und sicher Eugenie ihre große Leidenschaft in ihrem Herzen verschloss, und mit welcher Lebendigkeit sie den Tag über an allen Torheiten, die getrieben wurden, ihren Anteil nahm. Neben den religiösen Kämpfen beschäftigten sich die jungen Damen hauptsächlich mit der Frage, wer von ihnen die längsten Augenwimpern habe. Es wurden zur Lösung dieser Zweifel die schwierigsten Messungen vorgenommen. Wirklich gehörte viel Interesse für die Sache dazu, um sich ein Blatt Papier unter das Lid zu schieben und sich mit einem Bleistift dicht vor dem Augapfel herumfuchteln zu lassen.
Mitten im Vierteljahr kam eine neue Schülerin, die Tochter eines berühmten Schriftstellers aus Berlin. Sie wurde mit der größten Spannung empfangen. Ein völlig farbloses, elfenbeinweißes Gesicht und hellgrüne Augen unter schwarzen Brauen, die über der Nasenwurzel dicht zusammengewachsen waren, gestalteten das Äußere dieses Mädchens eigenartig genug. Dazu eine Fähigkeit, sich mit der großen Zehe an der Nase kitzeln zu können und die Finger ohne jede Schwierigkeit nach allen möglichen und unmöglichen Richtungen zu biegen und auszurenken – das alles musste die kühnsten Erwartungen von etwas Außergewöhnlichem übertreffen. Agathe befiel bei dem Anblick der Neuen sofort eine böse Ahnung.
Da Klotilde erklärte, ihr Vater habe stets ihre Aufsätze korrigiert, wurde sie natürlich ohne weitere Prüfung in die erste Klasse aufgenommen. Dr. Engelbert glaubte dies dem Ruhm einer deutschen Litteraturgröße schuldig zu sein. Hier erfüllte die junge Dame indessen die auf ihr gebauten Hoffnungen so wenig, dass Dr. Engelbert sich genötigt sah, sie in die zweite Klasse, welche seine Frau leitete, zurückzuführen. Es stellte sich denn auch heraus, dass Klotilde nur die Stieftochter des Dichters war, also nicht wohl seine Talente geerbt haben konnte.
Schon am ersten Abend ging Eugenie mit der Neuen im Garten spazieren und ließ sich von ihr in der Kunst unterrichten, sich eine griechische Nase zu schminken. Agathe wagte einen schüchternen Einwurf. Aber damit kam sie schlecht an. Eugenie vernachlässigte sie in den nächsten Tagen in wahrhaft brutaler Weise. Eine heftige Korrespondenz erfolgte zwischen den zwei Schlafsaalsgenossinnen, man schrieb sich in pathetischen Ausdrücken die beleidigendsten Dinge. Agathe durchweinte vor Zorn und Eifersucht ganze Nächte. Schließlich erklärte ihr Eugenie rund heraus: sie liebe Klotilde, sie habe es vom ersten Augenblick an gefühlt. Gegen Liebe lasse sich nichts tun, und Agathe möge sich eine andere Freundin suchen. Man sprach nicht mehr zusammen – man ging aneinander vorüber, ohne sich zu sehen.
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