Dass ein hässliches, kleines Judenmädchen die Gelegenheit ergriff, sich an die Verlassene zu drängen, konnte sie nur wenig trösten. Agathe begann jetzt Eugeniens Liebesgeschichte mit dem Kommis in einem anderen Licht zu sehen und etwas Unerlaubtes, Hässliches darin zu finden. Wer konnte wissen, ob sie nicht Unrecht hatte – sie war ja eine ganz treulose Natur.
Eugenie schien sich indessen mit der Neuen herrlich zu amüsieren. Am Tage lasen die jungen Mädchen Ottilie Wildermuth und die Polko, des Nachts im Bett lasen sie Eugen Sue. Auch ein schmutziger Leihbibliothekband mit herausgerissenem Titelblatt machte die heimliche Runde. Er enthielt die Schicksale einer Frau, die mit einem Mal in Form einer Maus behaftet ist, das sie sorgfältig zu verbergen sucht, während der tückische Zufall das Geheimnis beständig enthüllt. Agathe fand diese Geschichte dumm und eklig.
Da hieß es, sie wäre prüde, und man nahm sich vor ihr in acht. Klotilde hatte einige von den Werken ihres Vaters mitgebracht, die sie ihren bevorzugten Freundinnen borgte, jedes Mal mit der beleidigenden Bemerkung: sie der frommen Agathe nicht zu zeigen!
Und was die Mädchen für rote Köpfe bekamen, wenn sie die Bücher in verborgenen Lauben verschlangen. Es war aber auch grässlich aufregend, sich vorzustellen, dass ein so feiner, vornehmer Herr, wie der Dichter, gegen den sogar Dr. Engelbert die Unterwürfigkeit selbst gewesen war, so schreckliche Sachen schrieb. – Hätten die Mädchen nur nicht immer ihre geflüsterten Unterhaltungen abgebrochen, wenn Agathe sich näherte. Sie verging vor Neugier, zu erfahren, was jetzt wieder alle so furchtbar beschäftigte. Aber der Stolz hinderte sie, auch nur eine einzige Frage zu tun. Es war ein entsetzlicher Zustand, ausgeschlossen und verachtet zu sein, während man sich grenzenlos nach Vertrauen und Liebe sehnte.
Endlich erfuhr sie das Geheimnis durch das Judenmädchen, das ihr zu ihrem heimlichen Verdruss mit der Treue eines kleinen Hundes nachlief. Frau Dr. Engelbert würde wahrscheinlich ein Kindchen bekommen. Die jungen Damen waren einig in der Empörung, dass man ihnen, den Töchtern der besten Familien, einen so anstößigen Anblick zumuten könne! Warum entrüsteten sie sich nur so heftig? dachte Agathe – sie hatten doch auch kleine Geschwister. Sie war gerührt und ein wenig verwirrt. Wenn Frau Dr. Engelbert in die Stube kam, suchte sie ihr unbemerkt etwas Liebes zu erweisen und lernte mit Eifer ihre Aufgaben, um sie beim Unterricht nicht zu kränken.
Frau Dr. Engelbert suchte sich mit der tröstlichen Aussicht zu beruhigen, das freudige Familienereignis werde in den großen Ferien fallen. Doch fühlte sie mit steigendem Unbehagen, wie fünfundzwanzig junge Augenpaare mit gierigem Vergnügen jede Veränderung ihres Äußern beobachteten und fünfundzwanzig schonungslose Mädchenzungen darüber tuschelten und flüsterten.
Ihr Mann fand ihre Ängstlichkeit übertrieben und bewies ihr mit seinem schönen Idealismus: deutsche Mädchen seien viel zu unschuldig und zu wohlerzogen, um die Sache auch nur zu bemerken.
Da wurde das Interesse traurig genug abgelenkt. Eine der Schülerinnen, ein blühendes, freundliches Geschöpf, bekam den Typhus und war in wenigen Tagen eine Leiche. Man hatte sie in der abgelegenen Krankenstube gepflegt, und niemand der Kinder durfte sie im Sarge sehen. Das Unschöne, Traurige sollte den jungen Wesen möglichst fern gehalten werden. Trotz dieser Vorsicht bekamen mehrere Schülerinnen Weinkrämpfe. In den Schlafsälen mussten die Lampen brennen bleiben, weil die meisten sich fürchteten, im Dunkeln zu schlafen.
Auch Agathe war maßlos aufgeregt. Sie wurde von einem unnatürlich gesteigerten Verlangen geplagt, die Leiche zu sehen, ja sie zu berühren.
Sie schämte sich über sich selbst, suchte sich zu beherrschen und las in ihrer Bibel den neunzigsten Psalm.
Es war schon spät am Abend. Eugenie sprach noch mit der Engländerin und erzählte dieser, sie habe ihr Vokabelheft bei Klotilde liegen lassen und wolle noch hinüberlaufen, es zu holen, weil sie morgen früh daraus lernen müsse. Nach einigem Hin- und Herreden verschwand Eugenie. Es verging etwa eine Viertelstunde, dann kam sie zurück und schlüpfte in Agathes Kammer.
»Agathe«, flüsterte sie weinend, »wir haben Elsbeths Leiche gesehen. Ich musste – ich wäre sonst gewiss auch krank geworden.«
»Wie kann man denn?« fragte Agathe, sich aufrichtend.
»Die Krankenstube hat doch ein Fenster nach dem Flur – das steht offen, hinter dem Vorhang. Es brennt Licht drin. Sie war so schön – aber grausig! Ach, Agathe, so jung zu sterben, ist schrecklich!«
Die entzweiten Freundinnen fielen sich in die Arme und weinten zusammen, dann zog Agathe ihre Strümpfe an und warf ihre Röcke und ihren Regenmantel über.
»Ich will auch hin!«
»Ja – ein Stuhl steht in einer Ecke vom Flur. Du musst darauf steigen. Warte erst noch, damit die Miss nichts merkt.«
In Furcht und Grauen schlich Agathe durch die dunklen Korridore des großen Hauses, eine Treppe hinab, eine andere hinauf, bis sie an das abgelegene Zimmer des Seitenflügels kam, wo der Sarg mit der jungen Elsbeth stand.
Ein kühler Wind strich durch das Fenster und bewegte ihr Haar, als sie den Vorhang hob, ein merkwürdig schauerlicher Duft wehte ihr entgegen, die Lampe, die auf einem Tisch zur Seite brannte, warf einen klaren Schein gerade auf das Gesicht der Toten und auf die wächsernen Hände, die über der Brust gefaltet lagen.
Als Agathe das ruhige, weiße Antlitz mit den geschlossenen Augen unter dem Schmuck des grünen Myrthenkranzes erblickte, wich ihre krankhafte Erregung und es wurde sehr still in ihr. Sie senkte den kleinen Vorhang und stieg mit schönen feierlichen Gefühlen wieder hinab. Sie faltete die Hände und lehnte sich gegen die Mauer.
»Lieber Gott, lass mich auch sterben«, betete sie. Das Leben, auf das sie sich so freute, schien ihr wertlos im Vergleich zu dieser Ruhe. An Auferstehung dachte sie nicht. Sie wäre gern in dem Augenblick vergangen – im Nichts verschmolzen, doch ohne sich darüber klar zu werden. – – Die Traurigkeit und Todessehnsucht hielt lange bei ihr an. Auch als Eugenie sich ihr wieder näherte, machte sie das nicht mehr glücklich.
Sommerferien auf dem Lande … Schwebt nicht ein Duft von Rosen und Erdbeeren vorüber? Schäumende Milch, frisch aus dem Kuhstall! – Körbe voll schwarzer und gelb-rot glänzender Kirschen! – Kuchen, halb so groß wie der Tisch, mit einer dicken Butter- und Zuckerkruste – Honigscheiben, die vor neugierigen Augen dem Bienenstock entnommen werden … Und Sonne – Sonne – Sonne!!
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