Noch konnte jeder Windzug von den Feldern frei durch die erst halb fertigen Straßen blasen. Es war nicht eben behaglich, dass er stets Kalkstaub und Sandwolken von den vielen Bauplätzen in die Luft emporzuwirbeln fand und den Dampf, sowie den durchdringenden hässlichen Geruch des Asphalts, der in großen schwarzen Kübeln auf offenen Feuern erhitzt und für die Pflasterung der Trottoire zubereitet wurde, bald nach dieser, bald nach jener Seite wehte. Die bereits fertig gestellten Häuser ragten, mit ihren schweren geschnitzten Haustüren, ihren mit Stückwerk, Karyatiden und Balkons überladenen Fassaden und den nackten, fensterlosen Seitenflanken, unbeschützt durch gleichgroße Nachbarn, in geradezu erschreckender Höhe empor.
Dennoch sah man schon, dass dieser neue Stadtteil binnen Kurzem die Zierde von M. sein würde. Jeder fand es begreiflich, dass man das neue Gute durch ein unangenehmes Übergangsstadium erkaufen müsse. Die Wohnungen waren begehrt und sehr teuer.
Hier sollte Agathe ihr Leben als erwachsener Mensch beginnen. Sie wollte es sich ganz nach eigenem Sinne gestalten. Zwar – auf die Eltern hatte sie Rücksicht zu nehmen, aber Papa und Mama liebten sie ja so sehr, dass sie ihr gewiss in allem entgegenkommen würden, besonders da sie nur das Gute wollte und den schönsten Idealen nachstrebte.
Beichte und Abendmahl hatten doch eine entsündigende Macht! Sie fühlte sich frei und leicht, die Seele war ihr wie abgebadet. Und eigentlich – nun sie erwachsen war, konnte es doch auch nicht so schlimm sein, wenn sie manches wusste, von dem niemand ahnen durfte, dass ihre Gedanken sich damit beschäftigten.
In dem Zimmer mit dem hübschen Blumenerker, das die Eltern neu eingerichtet und ihr als Eigentum übergeben hatten, baute Agathe alle ihre Konfirmationsgeschenke feierlich auf.
Herweghs böse Sturmgesänge waren beim Buchhändler gegen eine Gedichtsammlung mit dem Titel »Fromme Minne« eingetauscht. Martin nannte sie verächtlich nur: die fromme Minna.
Er hatte Heidlings nach abgelaufenem Militärjahr auf seiner Reise zur Universität besucht. Aber Agathe verstand sich nicht mehr mit ihm. Er gewöhnte sich eine rohe Art an, über alles, was sie schön fand, zu höhnen und bei jeder Gelegenheit in ein lautes wildes Lachen auszubrechen. Infolge seines unliebenswürdigen Wesens wurde es Agathe noch zweifelhafter, ob Revolution und Christentum sich vereinigen lasse. Sie studierte mit Eifer die Zeitungen, verschob es aber vorläufig noch, sich bestimmt für eine Partei zu entscheiden. Sie wollte sich erst recht gründlich unterrichten.
… Wie neckisch auf dem Geschenktisch der kleine rote »Liebesfrühling« zwischen den vertrockneten Blumensträußen und den Lederetuis mit den Schmucksachen hervorblickte! Aber über allem thronte als Mittelpunkt der Prachtband: »Des Weibes Wirken als Jungfrau, Gattin und Mutter.« Seine reiche Vergoldung strahlte in einem sanften, mystischen Glanz.
Der jetzige Zustand war ein Noviziat, das der Einweihung in die heiligen Geheimnisse des Lebens voranging. Die einfachsten häuslichen Pflichten führten Agathe ein in den gottgewollten und zugleich so süßen, entzückenden Beruf einer deutschen Hausfrau. Durfte sie am Sonntag ein Tischtuch aus dem schönen Wäscheschrank der Mutter holen und die Bettbezüge und Laken für den Haushalt verteilen, tat sie es mit froher Andacht, wie man eine symbolische Handlung verrichtet.
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In der Bodenkammer unter dem Dach wanderte ein feiner Sonnenstrahl durch die kleine Fensterluke über Spinneweben und Staubwust. Keck und lustig vergoldete er da ein Eckchen und dort ein Zipfelchen von dem alten überflüssigen Plunder, der hier pietätvoll aufbewahrt wurde: Bilder aus dem Haushalt der Großeltern und verblasste Rückenkissen, Walters Schaukelpferd, und Ballschuhe, in denen die Regierungsrätin als Braut getanzt hatte. Sie konnte sich nie entschließen, sich von einem Dinge, das ihr einmal lieb gewesen, zu trennen, und so wanderte der Inhalt der Bodenkammer auch bei jedem Wohnungswechsel der Familie Heidling getreulich mit.
Zu den köstlichsten Andenken vergangener Zeiten begrub Agathe nun ihr Spielzeug, das sie in eine Kiste sorgsam mit Kamphorsäckchen verpackte. Die ganze Miniaturausgabe einer Kinderstube ging so noch einmal durch ihre Finger, bis zu den Wickeln und Windeln, der Badewanne und den Wärmfläschchen, – den vielen zierlichen Gegenständen, die zur Pflege der Allerkleinsten nötig sind und durch deren Handhabung bei fantasievollem Spiel die geheimsten Empfindungsnerven des werdenden Weibes in erwartungsvoll zitternde Schwingungen versetzt werden.
Träumerisch erinnerte sich Agathe, indem sie ihre Lieblingspuppe zum Abschied leise auf die Stirn küsste, des atemlosen Entzückens, mit dem sie oft ihr Kleid geöffnet hatte, um das harte kalte Wachsköpfchen an die winzigen Knospen ihrer Kinderbrust zu drücken und es trinken zu lassen. Verlegen lächelnd tastete sie nun über die weiche Rundung ihres Busens. Nie konnte ihr die Schneiderin die Taille eng genug machen, sie schämte sich der ungewohnten Fülle ihrer Formen.
Auf dem Grunde der Kiste, unter einer verblichenen rosenroten Decke, lagen die kleinen Sachen, die sie selbst und die gestorbenen Geschwisterchen einmal getragen hatten. Das alles wurde aufbewahrt bis zu dem Tage, wo es Agathe einmal herausnehmen durfte zum Gebrauch für ihre eigenen lebendigen kleinen Kinder. Neugierig hob sie die rosenrote Decke ein wenig und zog ein feines, winziges, spitzenbesetztes Hemdchen hervor. Nein – wie süß! Wie süß!
Sie streckte ihre Finger in die Ärmelchen und lachte es an.
War das alles rätselhaft, seltsam – ein tiefes Wunder … Und was sie hörte, was sie träumte, machte alles nur unbegreiflicher … Ach, die schweigsam selige Erwartung in ihr – Tag und Nacht – Tag und Nacht – – – –
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Im Gegensatz zu der Mattigkeit und Schlafsucht, gegen die Agathe während ihrer Pensionszeit beständig zu kämpfen gehabt hatte, erfüllte sie jetzt ein immerwährendes Verlangen nach Bewegung und Tätigkeit.
Sie fühlte sich oft namenlos glücklich, auch ohne eine besondere Ursache. Beim Abstäuben der Möbel konnte ihr heller Sopran sich plötzlich zu lautem Jubel aufschwingen. Unzähliges wurde zu gleicher Zeit begonnen: Kunstgeschichte, Schneiderei, Musik und Besuche bei Freundinnen und bei armen Leuten, denen die Ersparnisse ihres Kleidergeldes zuflossen. Ach ja – so recht praktisch, liebevoll, aufopferungsfreudig und dabei gescheut und von gediegener Bildung! Um das zu erreichen, musste man sich schon tummeln! Alles, alles für ihn – den geliebten, herrlichen, zukünftigen Unbekannten! – Für sich allein, nur aus Freude an den Dingen – nein, das wäre doch Selbstsucht gewesen! Und es war ja auch so schön, so süß, für andere zu leben.
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