Krebs! Einmal ausgesprochen – auf mich zugesprochen, verändert das alles. Krebs: Wuchtig ist dieses kleine Wort, bedrohlich, dunkel. Das ist also die Zäsur in meiner Lebensgeschichte? Die erste Gefühlslage reichte von: »Das war’s!« bis »Kämpfen!« Ich dankte dem Arzt für seine Offenheit. Ein halbes Jahr später – wir sind inzwischen befreundet – fragte ich ihn bei einem Abendessen, wie er Patienten mit solchen Diagnosen konfrontiert. Er meinte: »Ich mache schon Unterschiede. Wenn ich den Eindruck habe, jemand verkraftet so etwas nicht, sage ich: Da gibt es noch einiges abzuklären. Bei dir hatte ich den Eindruck, ich kann gleich mit der Wahrheit herausrücken.«
Benommen verließ ich die Praxis. Mit wirren Gefühlen. Bevor ich ein Taxi bestieg, betrachtete ich die Bäume an der belebten vierspurigen Straße, die bunten Blätter, die Herbstsonne. Als wäre es das erste Mal! Wie lange noch?, durchzuckte es mich.
Dann versuchte ich, mich zu sortieren: Wen soll ich jetzt anrufen? Meine Eltern? Mein Vater hatte einige Monate vorher einen Gehirnschlag erlitten. Das wäre jetzt keine gute Idee, die regen sich daheim nur auf. Und Näheres wusste ich ja noch nicht. Der mir am nächsten stehende Mitbruder in St. Michael, meiner Kommunität, war nicht erreichbar. So war es ein Jesuit in Frankfurt, der mich seit einigen Monaten beim Verfassen eines Buches über Papst Franziskus beriet. »Andreas, ich bete für dich!« Was mir Michael sonst noch sagte, weiß ich gar nicht mehr. Aber die Versicherung, für mich zu beten, war in diesem Moment ein Trost. Gleichzeitig hatten seine Worte etwas Schweres und Ernstes an sich. Ausweichen lässt sich einer solchen Diagnose nicht. Verdrängen, ignorieren geht auch nicht. Auf einen selber wirkt sie so brutal wie auf andere, die davon erfuhren oder denen ich davon erzählte, besonders auf Nahestehende.
Zurück in meiner Kommunität, setzte ich mich zuerst im Garten von St. Michael nieder: der erste Innenhof mit Renaissance-Fassade in Deutschland, 1583 bis 1597 mit der Michaelskirche gebaut. Späte Nachmittagssonne. Es war mittlerweile 17 Uhr. Es rumorte in mir. Bald würden mich die Mitbrüder fragen: Alles in Ordnung? Nichts mehr war in Ordnung. Würde denn jemals wieder alles so sein können wie zuvor?
Abends bat ich meine Oberen – den Pater Superior, den Pater Minister – und den mir am nächsten stehenden Mitbruder zu einem Gespräch: »Ich habe Krebs.« Und schon konnte ich nicht mehr weitersprechen. Die Stimme brach mir. Wir vereinbarten, dass ich erst die nachfolgenden Untersuchungen abwarten solle, bevor wir die anderen Kommunitätsmitglieder informieren und dann die Ordenszentrale verständigen würden. Wir tranken noch einen Schnaps. Alles war plötzlich irgendwie anders. Ins Bett ging ich mit bangen Fragen.
2.
»Sagen Sie alle Termine für ein Jahr ab!«
Tags darauf fuhr ich nach Neuperlach, wo es ein modernes städtisches Klinikum gibt. Der Navigator zeigte die Entfernung an: dreizehn Kilometer. Je näher ich dem Spital kam, desto mulmiger wurde mir. Vielleicht war alles ein Irrtum? Würde sich die Diagnose als falsch herausstellen? Eine verwegene Hoffnung, ein blöder Gedanke! Aber es meldet sich viel, um die Wirklichkeit nicht in ihrer ganzen Breite wahrnehmen zu müssen. Man möchte die Uhr zurückdrehen und die letzten vierundzwanzig Stunden ungeschehen machen!
Nach der Anmeldung musste ich warten. Dann saß ich dem Chefarzt gegenüber. Nach einem kurzen Gespräch – ich spürte, dass er Bescheid wusste – untersuchte er mich und bestätigte schon bald die Diagnose seines Kollegen in Neuhausen.
»Was machen Sie beruflich?« »Ich bin Chefredakteur einer Monatszeitschrift, werde aber mit Jahresende nach siebzehn Jahren aufhören und eine Sabbatzeit antreten.« Dann der nächste Hammersatz, wuchtiger noch als die Diagnose vom Vortag: »Sagen Sie alle Termine für ein Jahr ab! Sie werden sich darauf einstellen müssen, dass die Behandlung mehrere Monate dauert. Und danach kommt eine Reha.« Meine naive Vorstellung, dass da etwas aus mir herausoperiert würde und dann alles wie gewohnt weitergeht, wurde daraufhin schlagartig zerstört: »Nach der Operation werden Sie einen künstlichen Darmausgang gelegt bekommen. Da der Tumor günstig liegt, bestehen gute Aussichten, dass er nach einigen Monaten rückverlegt werden kann und Sie den Anus praeter nicht für den Rest Ihres Lebens benötigen. Tausende Menschen müssen lebenslang damit leben.«
Mein Flug nach Tel Aviv war bereits gebucht. Vom 19. Dezember an sollte ich bis Ende Februar in Jerusalem im Päpstlichen Bibelinstitut unweit des King David Hotels den ersten Teil meines Sabbaticals verbringen. (Tags darauf stornierte ich den Flug.) Was der nächste Schritt sei, fragte ich. Nach der Koloskopie sollte eine Computertomografie Aufschluss geben über Details, die abzuklären waren. »Ich fliege in drei Tagen für eine Woche nach Rom. Kann ich das noch machen oder soll ich die Reise absagen?« »Fliegen Sie, aber vereinbaren Sie vorher den Termin für die Untersuchungen. Wir müssen abchecken, ob der Tumor schon gestreut hat.« Das Wort Metastasen fiel nicht. Aber es war unsichtbar da und schwebte wie ein Damoklesschwert über mir.
Als ich das Klinikum verließ und aufs Auto zusteuerte, durchzuckte es mich: Und hier werde ich monatelang zubringen müssen! Plötzlich wirkte der riesige Komplex auf mich wie eine Krake, bereit, mich zu verschlingen. Für wie lange? Ich war benommen, wie am Nachmittag zuvor, jetzt aber mit der Gewissheit versehen: Du hast Krebs, vergiss alles andere! Würde mir das gelingen?
Sofort meldeten sich Fragen: Wie ist das mit der für Ende Oktober geplanten Übergabe an meinen Nachfolger? Wie sollte ich nach der Woche in Rom einen neuen Redakteur einarbeiten? Fragen über Fragen. Sie kamen, überfallsartig – wie bei einem, der auf einem sinkenden Schiff versucht zu retten, was zu retten ist, und dabei ganz unsinnige Aktionen startet.
Dass ich nicht mehr oder nur mehr eingeschränkt würde arbeiten können, das realisierte ich in diesen ersten Tagen nach der Diagnose nicht. Es ist viel, was schlagartig auf einen einpurzelt. Im Rückblick kann ich mich an manches nur mehr dunkel erinnern, was mir in diesen ersten Tagen durch den Kopf schoss. Die innere Erschütterung, dass ich jetzt selber in einer Lage bin, die ich bisher nur als Priester oder als Angehöriger erlebte, macht sprachlos und lässt manchmal verstummen. Szenarien wandern im Kopf auf und ab, Bilder kommen hoch – und je mehr Menschen davon erfuhren, desto deutlicher wurde mir bewusst, dass »der Helfer« jetzt selber Hilfe braucht, weil er von Tag zu Tag hilfloser werden wird. Es ist, als säße man in einem Zug, der auf einen Abgrund zufährt. Man weiß, dass nicht gebremst wird – und bleibt trotzdem wie gelähmt sitzen.
3.
»Ich bin für dich da!«
Auf dem Rückweg nach St. Michael stoppte ich nach einiger Zeit am Straßenrand. Ich rief einen Freund an, der im Beirat der »Stimmen der Zeit« saß, den ich vor einigen Jahren installiert hatte. Fuat ist Onkologe und Hämatologe, er lehrt als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Nach dem medizinischen Doktor hat er an unserer Jesuitenhochschule auch in Philosophie promoviert. Ich erreichte ihn gleich. »Kann ich mit dir sprechen oder bist du bei Patienten?« »Was ist los, Abuna?« Die respektvolle Anrede Abuna (arabisch / aramäisch für »Vater« oder »Pater«) verwendet er gern. »Fuat, ich habe Krebs, ich komme gerade aus Neuperlach, ich soll sehr bald operiert werden. Ich bin kommende Woche noch in Rom, dann geht es los mit den Untersuchungen.« Erneut brach mir die Stimme.
Dann hörte ich die wunderbaren Worte: »Abuna, seit der Taufe meines Sohnes bist du mein Bruder. Jetzt bin ich für dich da! Ich rufe dich heute Abend an.« Da sind mir zum ersten Mal die Tränen runtergelaufen, wie einem Kind. Ein richtiger Sturzbach! Ich spürte: Es steht ernst um mich. Aber da ist jemand, der mich nicht allein lässt.
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