»Haben Sie denn ein bestimmtes Kunstwerk im Auge, das Sie erstehen möchten?«
»Mein Vater will ›Die schlafende Frau‹ kaufen, was sein Vorhaben schier unmöglich macht.«
»Die schlafende Frau« galt als Kopfs größtes Kunstwerk und war gleichzusetzen mit Gustav Klimts »Der Kuss«.
Da kamen Anton und Rosa zurück. Rosa trug zwei Flaschen Himbeerlimonade, während Anton ein voll beladenes Tablett vor sich herbalancierte. Als Minna die beiden sah, sprang sie auf. Ernestine hielt sie gerade noch an der Leine zurück.
»Sitz«, forderte Rosa. Doch die Hundedame hüpfte an ihr hoch. Auch Antons Befehl ignorierte sie geflissentlich.
»Sitz«, sagte Ernestine. Sofort senkte Minna ihr Hinterteil ab.
»Beeindruckend«, raunte Maximilian Hummel bewundernd.
Anton stellte das Tablett ab und verteilte die Teller. Bevor er sich setzen konnte, schrie ein Herr an einem der hinteren Tische laut auf. Er schnellte von seinem Sessel empor und warf ihn dabei um. Die Aufmerksamkeit aller anderen Gäste war im Nu auf ihn gerichtet. Der Mann war um die fünfzig, trug nur eine Badehose und ein offenes Hemd und fuchtelte mit einer Zeitung über seinem leeren Teller. Die Frau neben ihm war ebenfalls aufgestanden und vertrieb mit ihrer bloßen Hand ein Insekt. Sie war trotz der Hitze grell geschminkt. Das Blond ihrer Haare war gefärbt. An ihrem rechten Handgelenk trug sie eine auffallende Kette aus riesigen Glas- oder Edelsteinen, die in der Sonne in allen nur erdenklichen Farben schillerten. Das Schmuckstück war mehrere Male um ihr Handgelenk gewickelt. Sie war schlank, verfügte aber über eine auffallend üppige Oberweite, die sie mit einem freizügig geschnittenen Badekostüm bereitwillig zur Schau stellte.
»Das ist Emil Kopf«, flüsterte Konrad Hummel.
Neugierig verdrehte Ernestine ihren Oberkörper noch weiter, um einen genauen Blick zu erhaschen. »Auf den Bildern, die es von ihm in den Zeitungen gibt, sieht er viel jünger aus.«
Konrad Hummel legte die Hand vor seinen Mund und senkte die Stimme noch weiter: »Herr Kopf ist sehr eitel. Er achtet genau darauf, welche Fotos von ihm an die Presse gehen.«
Sein Vater grinste. »Eine Aufnahme in seinem jetzigen Zustand würde er bestimmt nicht gutheißen.«
Tatsächlich machte Emil Kopf gerade eine sehr unvorteilhafte Figur. Das schüttere Haar, das er über seine Glatze gekämmt hatte, hing ihm nun seitlich über die Wange. Sein offen stehendes Hemd bot einen großzügigen Blick auf einen Kugelbauch. Mit hysterischen Bewegungen wedelte er immer noch vor seinem Körper.
»Sie ist weg, Liebling.« Die Stimme der blonden Frau war so laut, dass sie bis zu ihrem Tisch zu hören war. Doch Emil Kopf reagierte nicht.
»Die Biene ist weg!«, wiederholte die Frau nun deutlich unfreundlicher.
Jetzt erst schien Emil Kopf die Worte wahrzunehmen. Panisch sah er sich um. Als er die Aufmerksamkeit der übrigen Gäste bemerkte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. Die Angst wich einer Überheblichkeit. Er schloss einen Knopf seines Hemdes, legte das Haar wieder über seine Glatze und setzte sich mit einer Arroganz, die ihresgleichen suchte.
»Was für seltsame Ängste es doch gibt.« Maximilian Hummel schüttelte verständnislos den Kopf. »Menschen fürchten sich vor Spinnen, Schlangen und Fledermäusen. Ich habe einen Freund, der bekommt jedes Mal eine Gänsehaut, wenn er Heuschrecken sieht.«
»Der Arme«, meinte Anton. »Hoffentlich hat er keine Badehütte. Hier tummeln sich alle Arten von Insekten.«
»Gott bewahre, nein. Engelbert ist ein Stadtmensch durch und durch. Er hat mir den Tipp gegeben, Emil Kopf in Kritzendorf zu treffen. Angeblich ist der Künstler im Sommer umgänglicher und offener für Geschäfte. Grundsätzlich gilt er als sehr jähzorniger und aufbrausender Mann.«
»Dann würde ich ihn im Moment nicht ansprechen«, riet Anton und setzte sich endlich.
»Da haben Sie recht. Ich werde bis heute Abend warten. Die Musikveranstaltung ist der passendere Rahmen. Bei Ribiselwein und Schmalzbroten redet es sich leichter.«
»Gibt es denn auch unter der Woche Musikdarbietungen?«, erkundigte sich Ernestine.
»Für gewöhnlich finden sie am Wochenende statt. Aber heute haben sich drei A-cappella-Sänger angekündigt.«
»Anton, hast du das gehört?« Ernestines Augen strahlten vor Begeisterung. »Ich habe noch nie ein Konzert mit A-cappella-Sängern gehört.«
Rosa beugte sich zu Anton. »Was ist das, Opa?«
»Sänger, die die Geräusche von Instrumenten mit ihren Stimmen nachmachen.«
Mit einem Mal schmeckte sein Schnitzel nur noch halb so gut. Selbst am Abend schien die wohlverdiente Ruhe in weite Ferne zu rücken.
»Darf ich da mitkommen?« Um sich einzustimmen, schnalzte Rosa einen Takt mit der Zunge.
»Aber natürlich«, sagte Ernestine.
Minna stieß Anton mit der Schnauze gegen den Oberschenkel und schaute ihn dabei treuherzig an. Ein Hoffnungsschimmer tat sich am Horizont auf. Es war unmöglich, den Hund gleich am ersten Abend allein in der fremden Umgebung zu lassen. Dafür hatte Minna sich ein Stück von Antons Schnitzel verdient.
Den ganzen Nachmittag war Anton beschäftigt. Zuerst ging er einkaufen zum Greißler. Der Lehrling des freundlichen Kaufmanns half ihm dabei, Kaffee, Milch, Käse, Brot und Marmelade sowie Nudeln, Reis und Gemüse in den Leiterwagen zu tragen. Zufrieden mit der Ausbeute zog Anton den Wagen zur Badehütte und brachte ihn im Anschluss wieder zum Bahnhof. Als er danach einen Liegestuhl aufgestellt hatte und erschöpft darin ausrasten wollte, kamen Rosa und Lili angerannt.
»Opa, fährst du mit uns eine Runde mit dem Ruderboot?«
Ernestine stand in ihrem nagelneuen Badekostüm bereit. »Ich komme mit.«
Das Kostüm war dunkelblau mit kleinen weißen Tupfen. Sie sah darin entzückend aus. Auf dem Kopf trug sie einen passenden Sonnenhut aus Stoff. Unmöglich konnte Anton jetzt in seinem Liegestuhl bleiben. Er drängte seine Müdigkeit zur Seite und rappelte sich auf.
»Ich komme.«
Rosa musste Minna ins Boot heben, denn die Cockerspaniel-Dame hatte Bedenken ob des schwankenden Untergrunds. In beschaulichem Tempo ruderte Anton einen Donauarm mit stehendem Gewässer entlang in den Auwald. Im Garten neben dem Ferienhaus von Lili und ihrer Mutter winkte ihnen eine Frau von der Terrasse aus zu.
»Juhu!«
»Wer ist das?«, fragte Anton.
Ernestine blinzelte zum Steg. »Ohne Brille kann ich das leider nicht sehen.«
»Das ist die Frau aus dem Zug«, erklärte Rosa und winkte freudig zurück.
Jetzt erkannte auch Anton das ehemalige Kindermädchen. Martha Kolarik war nicht allein. Zwei Frauen saßen mit ihr unter einem dottergelben Sonnenschirm. Eine war jung und blond, mit einer riesigen Sonnenbrille auf der Nase, die andere deutlich älter. Die beiden unterhielten sich intensiv und schenkten dem vorbeifahrenden Boot keine Aufmerksamkeit. Die Badehütte, vor der sie saßen, verdiente den Namen »Auwaldvilla«. Der Holzbau auf Stelzen war von einem namhaften Architekten entworfen und errichtet worden. Klare Linien, große Glasflächen und ein modernes Flachdach erinnerten an die Handschrift von Adolf Loos. Anton ruderte in zügigerem Tempo weiter. Immer tiefer drangen sie in den Auwald vor. Die quakenden Frösche machten Minna nervös. Sie bellte einmal kurz und schreckte damit einen Graureiher auf, der aus einem der Gebüsche hochstieg und über ihren Köpfen elegant davonsegelte. Üppige Farne, dicke Lianen und Sumpfpflanzen hingen in das dunkle Donauwasser. Grüne Wasserlinsen schwammen darauf und verliehen der Landschaft einen Hauch Exotik. Es roch nach feuchter Erde und Fisch. Die Geräusche der Insekten wurden immer lauter und intensiver.
»Da möchte ich nicht baden gehen«, meinte Rosa. »Da sieht man ja gar nicht mehr, was sich am Grund befindet.«
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