»Sicher ganz viele große Fische, die nur darauf warten, einem in den Zeh zu beißen.« Lili kicherte.
»Es ist sehr vernünftig, dass ihr hier nicht schwimmt«, sagte Ernestine. »Die Fische sind nicht gefährlich, aber die Blutegel können unangenehm sein. Sie saugen sich an der Haut fest und trinken so lange Blut, bis sie satt sind und wieder abfallen.«
»Igitt!« Beide Mädchen schrien entsetzt auf, klammerten sich aneinander und hatten sichtlich Freude an dem schaurigen Gedanken blutsaugender Tiere.
Der Wasserlauf wurde zunehmend enger. »Hier geht es nicht weiter«, sagte Anton und versuchte umzudrehen.
Dazu musste er mit dem Heck ins dichte Grün fahren. Ein fetter Frosch sprang von einem der dicken Blätter, landete im Boot, blieb aber nur ganz kurz auf den Holzplanken sitzen und hüpfte mit einem lauten Klatschen ins Wasser. Schnell tauchte er unter.
»Ach, wie schade«, jammerte Rosa. »Vielleicht können wir ein paar Frösche fangen. Sie sind so süß.«
»Ja, wir setzen sie mit einer kleinen Leiter in ein Marmeladenglas, und dann beobachten wir sie. Bestimmt sagen sie uns das Wetter an.«
»Die armen Frösche«, sagte Ernestine. »Die Tiere ersticken in einem Marmeladenglas.«
»Aber nein, wir machen Löcher in den Deckel«, erklärte Rosa großmütig.
Deutlich langsamer, weil er zunehmend müde wurde, ruderte Anton wieder zurück. Wieder passierten sie die »Auwaldvilla«. Jetzt stand Martha Kolarik im Garten, nur ein paar Meter von ihnen entfernt. Wieder winkte sie ihnen zu.
»Herr Böck, Fräulein Kirsch, wollen Sie auf ein Stück Weichselkuchen vorbeischauen? Ich habe gerade frischen gebacken.«
Weichselkuchen? Das Wort klang wie liebliche Musik in Antons Ohren. Ohne die Antwort der anderen im Boot abzuwarten, lenkte er die Zille zum Ufer.
»Sie werden in den nächsten Wochen unsere Nachbarn sein, deshalb dachten wir, es wäre nett, wenn wir uns alle kennenlernen«, sagte Martha Kolarik.
Sie hatte ihr hochgeschlossenes Kleid gegen einen bunten Umhang aus leichtem Baumwollstoff getauscht, darunter trug sie ein dunkles Badekostüm. Trotz moderner Kleidung sah sie immer noch altbacken aus. Vielleicht lag es am goldenen Kreuz, das wie ein Mahnmal an ihrer Brust hing, oder an ihrer fahlen Gesichtsfarbe. Sie half, das Boot an einem Pfosten festzubinden. Einer nach dem anderen kletterte an Land. Rosa und Lili waren die Ersten.
»Bist du nicht die Kleine von Violetta Mader?«, fragte Martha Kolarik.
»Ja, ich bin die Lili.«
»Vielen Dank für die Einladung«, sagte Ernestine.
»Kommen Sie weiter. Wir haben auf der Terrasse schon alles vorbereitet.«
Offenbar hatten die drei Frauen auf die Rückkehr des Bootes gewartet, um ihre neuen Nachbarn zur Jause einzuladen. Auf einem Tisch standen Kaffee und Kuchen bereit. Die vornehm gedeckte Tafel erinnerte an eine der Kurkonditoreien in Baden.
»Opa, dürfen wir rübergehen und in Lilis Garten auf euch warten?«, fragte Rosa leise.
»Wollt ihr denn keinen Weichselkuchen?«
Die Mädchen sahen einander an. »Ihr könnt gern ein Stück mitnehmen.« Es war die junge blonde Frau, die diesen Vorschlag machte.
Das ließen die Mädchen sich nicht zweimal sagen. Dankend griffen sie sich zwei große Kuchenstücke und liefen mit Minna im Schlepptau in Lilis Garten.
»Ich kann verstehen, dass die Mädchen sich nicht mit uns alten Schachteln zu Tisch setzen wollen«, lachte Martha Kolarik.
Sie bat Anton und Ernestine, Platz zu nehmen. Die junge Frau, die immer noch unter dem Sonnenschirm saß, sah auf eine natürliche Art sympathisch aus. Sie stellte sich als Klara Kopf vor, die Tochter des großen Künstlers. Die andere Frau reichte zuerst Anton, dann Ernestine die Hand.
»Ich bin Franziska Magyar.« Sie war in Ernestines und Antons Alter und sprach im nasalen Schönbrunner Deutsch. »Ich bin Klaras Tante.«
Alles an ihrem Aussehen und ihrer Haltung ließ darauf schließen, dass sie reich war. An ihrem Hals glänzte eine dezente, aber garantiert teure Halskette aus Gold mit kleinen Diamanten, ihre beiden Ringfinger waren mit schweren Ringen geschmückt. Auch an ihren Ohrläppchen baumelten glitzernde Steine. Selbst die Sandalen an ihren Füßen waren aus gold gefärbtem Leder, das mit bunten Glassteinen besetzt war. Sie trug ein Sommerkleid aus reiner Seide, das mit Sicherheit aus einer der teuren Boutiquen am Graben stammte. An jedem anderen Ort hätte der skandalös tiefe Ausschnitt, der Einblick in ein nicht mehr ganz faltenfreies Dekolleté bot, für Aufsehen gesorgt. Hier in Kritzendorf war ein solcher Anblick völlig normal. Die Dame besaß eine erstaunlich üppige Oberweite. Das blasse Gesicht wurde vom Schatten eines riesigen, ausladenden Strohhuts geschützt. Nur ihr Mund lugte hervor. Die Lippen waren in einem ungewöhnlichen Orangeton geschminkt, passend zum orange gefärbten Haar, das ihr in Wellen auf die Schultern fiel. Die drei Gastgeberinnen hätten unterschiedlicher nicht sein können.
Das Geschirr am Tisch stammte aus der Wiener Porzellanmanufaktur. Es wirkte einen Hauch zu filigran und exquisit für eine Sommerbadehütte im Auwald.
»Kaffee oder Tee?«, fragte Martha Kolarik.
Obwohl sie zu Besuch hier war, übernahm sie die Rolle der Gastgeberin und Hausherrin.
»Kaffee«, sagten Anton und Ernestine gleichzeitig.
Während Martha Kolarik duftenden Filterkaffee in die Tassen schenkte, sah Ernestine sich um. »Hatten Sie Besuch von Gustav Preisel?«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Franziska Magyar irritiert.
»Dieser Karton, der an der Wand lehnt. Der stammt doch von ihm. Oder?«
Alle drehten die Köpfe zur Holzwand neben der hohen Glastür. Es war der Karton, den Anton zuvor für Gustav Preisel transportiert hatte. Die Verpackung war geöffnet worden. Das Papier war nur noch lose um die Leinwand gewickelt.
»Günther hat mir das Bild schon seit Jahren versprochen. Jetzt hat er es endlich mitgebracht«, sagte Klara Kopf.
»Günther? Ich dachte, der Maler heißt Gustav«, sagte Anton, der für gewöhnlich ein ausgezeichnetes Namensgedächtnis hatte.
»Herr Preisel hat seinen Vornamen geändert, wohl in der Hoffnung, dass, wenn er den Namen seines Lehrers trägt, ein wenig von dessen Ruhm auf ihn abfärbt«, erklärte Martha Kolarik.
»Seit wann magst du Bilder zweitklassiger Künstler?«, fragte Franziska Magyar ihre Nichte abfällig.
»Es ist ein Bild von Mama.« Die Stimme der jungen Frau wurde leiser.
»Wann hat Günther Preisel meine Schwester porträtiert?«
»Es ist kein Porträt.« Martha Kolarik räusperte sich dezent.
Franziska Magyar ignorierte die Bemerkung. Sie sah Klara eindringlich an und wartete auf eine Antwort.
»Das Bild ist in der Zeit entstanden, als Günther in Wien studiert hat.«
»Pah, das sieht meiner kleinen Schwester ähnlich. Sich von diesem untalentierten Möchtegernkünstler malen zu lassen.« Sie schnaufte verständnislos. »Sie hat ihr ganzes Leben lang absonderlichste Dinge getan. Die unsinnigste Sache war ihre Ehe mit Emil Kopf.«
»Es gibt Leute, die mögen Gustavs Bilder.« Klara Kopf hielt Martha Kolarik ihre leere Tasse entgegen. »Für mich auch noch einen Schluck, bitte.«
»Jetzt haben Sie mich furchtbar neugierig gemacht«, sagte Ernestine. »Dürfen Herr Böck und ich das Gemälde sehen? Wir finden Kunst äußerst spannend.«
Anton verschluckte sich. Sein Interesse galt ausschließlich dem duftenden Weichselkuchen auf dem Servierteller in der Mitte des Tisches.
»Aber natürlich«, sagte Klara Kopf. »Martha und ich haben zuvor einen Blick darauf geworfen. Ich finde, dass Gustav Mama gut getroffen hat.«
Klara Kopf stand auf. Sie trug ein dunkelrotes Badekostüm und darüber einen ärmellosen Seidenmantel, der lose ihren schlanken Körper umspielte.
»Stammt Ihr Mantel auch aus dem Laden im Strombad? Der Schnitt ist außergewöhnlich«, sagte Ernestine.
Читать дальше