• Wenn das Kind und ein oder beide Elternteile erkrankt sind, wie geht es dann weiter? Wie sieht es bei einer betroffenen Mutter oder einem alleinerziehenden Elternteil aus?
• Welchen Stellenwert haben Nährstofftherapien (Omega-3- und -6-Fettsäuren, Nachtkerzenöl, Vitamin E und Magnesium)?
• Was ist von der begleitenden homöopathischen Behandlung zu halten?
• Ist es sinnvoll oder gefährlich, Kindern »prophylaktisch« Zink zu verabreichen?
• Welchen Stellenwert und welche Nebenwirkungen haben Psychostimulanzien?
• Wer übernimmt die Kosten für Therapien, wenn das Kind schon als Hilfe zur Erziehung nach § 27 untergebracht ist und die Finanznot in den Jugendämtern groß ist?
• Ist eine Therapie im Erwachsenenalter noch möglich? Wenn ja, wo und wie?
• Wie sieht die Therapie bei Erwachsenen mit ADHS und Depressionen und/oder Angstzuständen aus?
3 Der lange Weg zur Diagnose
Bericht einer Lehrerin der 5. Klasse der Realschule
Max ist sehr leicht ablenkbar und in hohem Maß unkonzentriert. Er stört nicht bewusst, sondern ist ständig mit Dingen beschäftigt, die nicht zum Unterricht gehören, und hält auch andere Schüler vom Unterricht ab, wenn er nicht alleine sitzt.
Es fällt auf, dass er bei Sachverhalten und Aufgabenstellungen, die ihn interessieren, sehr wohl konzentriert arbeiten kann, auch über einen längeren Zeitraum.
Wenn man ihn ermahnt hat, versucht er, sich zu beteiligen, und zeigt dann durch seine Beiträge, dass er in der Lage ist, Sachverhalte schnell aufzufassen. Für einen Schüler der Klasse 5 zeigt er eine überdurchschnittliche Abstraktionsfähigkeit. Allerdings hält dieses Verhalten immer nur für kurze Zeit an (maximal eine Unterrichtsstunde).
Er hat eine sehr schlechte Schrift und eine sehr schlampige Heftführung. Wenn er zeichnet oder malt, arbeitet er dagegen sorgfältig und sauber und erzielt überdurchschnittliche Ergebnisse.
Max ist völlig unorganisiert, vergisst ständig Arbeitsmaterial, häufig seine Hausaufgaben und verliert alles, vom Schreibzeug bis zu Kleidungsstücken. Er vergisst Strafarbeiten und Nachsitztermine und bringt sich damit immer wieder neu in belastende Situationen.
In der Klasse wird er zwar nicht abgelehnt, aber die anderen Kinder sind durch sein Verhalten zum Teil genervt. Deshalb findet er schlecht Kontakt zu seinen Mitschülern und ist mehr oder weniger Einzelgänger. In den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden neigt er dazu, durch das Zimmer zu rennen, Gegenstände zu werfen usw. Offenbar hat er einen sehr großen Bewegungsdrang. Dies könnte auch erklären, weshalb er häufig im Unterricht fragt, ob er zur Toilette darf.
Wenn man Max wegen seines Verhaltens tadelt, scheint ihn dies zu treffen, er zeigt Einsicht und hat wohl auch ernsthaft die Absicht, an sich zu arbeiten. Allerdings gelingt es ihm nicht, seine Vorsätze umzusetzen.
Die Lehrerin ist Max offensichtlich zugetan, weiß aber sichtlich nicht, was mit ihm los ist.
Eltern haben sich oft vielfältig informiert, sich an Ratschläge gehalten, finden nach Tagen ständigen Kampfes wegen Hausaufgaben, des unaufgeräumten Zimmers und/oder ständigen Geschwisterstreits abends z. B. einen solchen Zettel:
Ich werde euch bestimmt eine große Last abnehmen,
wenn ich weg bin. Das schwarze Schaf würde fehlen.
Aber ihr werdet bestimmt nur um den Verlust der Sachen trauern.
Gezeichnet Fabian
Ach so, ich gehöre ja nicht mehr zu dieser Familie –
also das schwarze Schaf auf nimmer Wiedersehen.
(Fabian, 10 Jahre, 2002)
Bis heute müssen Eltern von betroffenen Kindern und Jugendlichen und besonders auch Erwachsene oft sehr lange suchen, bis sie eine Anlaufstelle gefunden haben, in der sie sachliche Informationen, eine exakte und umfassende Diagnostik und zielführende Hilfestellung erhalten. Eltern solch belasteter und zum Teil vom Scheitern bedrohter Kinder müssen sich heute immer noch anhören, sie wollten sich vor ihrer Erziehungsverantwortlichkeit drücken.
Die Elternselbsthilfegruppen haben vielfältige Erfahrungen, wie heftig uninformiert, teilweise ideologiegeleitet und/oder antipsychiatrisch speziell gegen die Medikation argumentiert wird. Wenn sich verunsicherte Eltern nach langen Überlegungen dann doch zur Medikation entschließen, wird ihnen oft vorgehalten, dass diese Medikamente die Persönlichkeit verändern könnten, abhängig machten, schwerste Nebenwirkungen (auch beim Absetzen) zeigten. Bis heute wird ihnen sehr oft vorgeworfen, sie wollten ihre Kinder ja nur medikamentös ruhigstellen.
Regelmäßig tauchen in der Presse Warnungen vor zu häufig gestellten ADHS-Diagnosen und der medikamentösen Behandlung auf. Erfahrene Praktiker und Leiterinnen von Selbsthilfegruppen sind es mittlerweile Leid, immer wieder erklären zu müssen, dass es eben keine erhöhte Gefahr der Entstehung von Erbgutschäden, Morbus Parkinson, Alzheimer-Demenz, Leberschäden oder Herz-Kreislauf-Versagen, gibt. Nicht nur Laien, auch viele Fachleute, die im therapeutischen oder pädagogischen Kontext mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, wissen bis heute kaum etwas über ADHS – aber zur Medikation haben fast alle eine »Meinung«!
ADHS wird noch viel zu häufig nicht erkannt, nicht anerkannt, teilweise sogar verkannt oder durch den Grad des Gestörtseins der Umgebung definiert, statt die Symptomatik anhand des Leidens der Betroffenen zu verstehen.
In einer Gesellschaft, in der immer mehr, immer schneller mit immer weniger »man-power« geleistet werden soll, ist mittlerweile nachvollziehbar, warum aktive Jugendliche und Erwachsene mit ADHS »andere« Diagnosen erhalten. Geht es jemandem schlecht, wird extrem oft ganz schnell ein Antidepressivum verschrieben. Dadurch wird jedoch bei Menschen mit ADHS vor allem der Antrieb sofort herabgesetzt, Müdigkeit setzt ein, begleitet von Gewichtszunahme – und alles wird noch mühsamer, die reaktive depressive Verstimmung bei dieser Fehlbehandlung wird größer …
Viele müssen bisweilen sogar um die Diagnose kämpfen, wenn sie sich in der Literatur oder im Internet bei ihren eigenen Recherchen in der Symptomatik wiedererkannt haben.
Als ich 2003 das erste Mal von ADHS las, wusste ich sofort, dass dies die Antwort auf meine unbeantworteten Fragen, des selber Nichtverstehens und meiner langen Leidensgeschichte war.
Ich saß vorm PC und weinte. Ich war erleichtert.
Es gab einen Grund für all die Dinge.
Für mein »Komischsein« bzw. »Anderssein«, für meine Langsamkeit, meine Vergesslichkeit, meine Verträumtheit und für meine Unzulänglichkeiten.
Ich war nicht dumm. Ich war kein Versager.
Immer wieder Misserfolge bei den Versuchen, das zu schaffen, was andere doch auch schaffen. Mir gelang es nicht oder nur mit wahnsinniger Kraftanstrengung.
Und dabei spürte ich immer, dass ich eigentlich nicht dumm bin und irgendwie Potenzial in mir habe, welches ich nur meist irgendwie nicht greifen und nutzen kann.
Erst dadurch, dass meine kleine Tochter ähnliche Probleme hatte wie ich, bin ich nachdenklich geworden und auf ADHS gestoßen.
Der erste Arzt, mit dem ich über die Vermutung ADHS sprach, behauptete, das gäbe es bei Erwachsenen nicht. Aber ich wusste, dass er nicht Recht hatte.
2004 wurde dann bei meiner Tochter und mir die Diagnose gestellt. Sehr spät für mich, aber für meine Tochter hoffentlich eine Chance, dass sie es nicht ganz so schwer haben wird mit Unterstützung.
Wir gehören zur Kategorie »Träumerchen« und das ist mit ein Grund, weshalb ich den Gedichteband (ich habe schon mit zwölf Jahren angefangen, Gedanken und Gefühle in Gedichte zu verpacken), der im Mai dieses Jahres fertig war, »In Farbe träumen« nannte (ich habe mich aber erst getraut, nachdem ich 2005 für mein Gedicht »Albatros« den Jokers-Lyrikpreis gewonnen habe). Für mich eine Doppelbedeutung, auf die ich auch auf meiner ersten Lesung im Juli hingewiesen habe.
Читать дальше