Die Oberschwester, die händeringend und völlig aufgelöst in ihrem Büro saß, ordnete an, dass der Offizier, ein Oberleutnant, zu Leutnant Staude ins Zimmer gelegt werden sollte. Die Verteilung der übrigen Neuzugänge überließ sie Schwester Elfriede.
Erst gegen neun Uhr war Elfriede endlich frei. In der Halle entdeckte sie einen von Staudes Leuten und fragte ihn nach dem Leutnant. In seinem Zimmer, das er nun nicht mehr allein bewohnte, konnte sie Fritz nicht treffen.
»Leutnant Staude hat Sie schon gesucht, Schwester«, sagte der Landser, einer der beiden Kanoniere. »Er ist draußen im Park. Wissen Sie schon, dass wir abrücken?«
»Sie rücken ab?«, fragte Elfriede mit zitternden Lippen. »Für immer?«
Kanonier Wiese schüttelte grinsend den Kopf.
»Nee, keine Bange nicht! Nur so ’n kleiner Betriebsausflug. König bleibt mit dem Kübelwagen hier.«
»Oh«, brachte Elfriede stockend hervor, »ach so. Ja, dann. Sie haben mir einen schönen Schrecken eingejagt, Herr Wiese.«
Sie wandte sich von dem jungen Soldaten ab, den sie beim Briefschreiben unterbrochen hatte.
Die Nacht war ungewöhnlich hell. Von zahllosen Sternen umgeben schwebte die goldene Sichel des abnehmenden Mondes wie ein leuchtendes Segel am unendlich hohen rauchfarbenen Himmel. Tief unten, zwischen den Silhouetten bizarr verzweigter Bäume, schimmerte das Meer, eine weite opalisierende Fläche, übergossen mit fahlem, grünlichem Licht, das auch auf den steinernen Mauern der Stadt und den steil im Osten aufragenden Felshängen lag. Ein leiser Wind strich flüsternd durch die Zweige exotischer Sträucher und Bäume.
Elfriede ging auf die Oleanderbüsche zu. Die rosa Blüten, die noch vor einigen Wochen einen betäubenden Duft verströmt hatten, waren in der Sommerhitze verdorrt.
Eine Gestalt löste sich aus den Schatten, in die das Mondlicht nicht drang.
»Elfie, bist du’s endlich?«
»Ja, Fritz, es ging nicht schneller!«
Er kam heran und ergriff ihre Arme.
Ein Frösteln durchschauerte sie. Donnerte in der Ferne Geschützfeuer, oder war es das Rollen der gegen die Küste brandenden See?
»Frierst du?«, fragte Staude besorgt. »Bist du krank, Elfie?«
»Ich habe Angst um dich, Fritz«, sagte sie. »Du musst fort. Ich weiß es.«
Er drückte sie zärtlich an sich.
»Ach, deshalb. Musst dir nichts denken, Elfie. Ein Transportkommando. In ein paar Tagen sind wir zurück. Anscheinend hatten sie gerade niemand anders, den sie damit hätten beauftragen können. Oder sie wollen, dass wir etwas tun für unseren Wehrsold.«
Vom Hotel her rief eine hohe Stimme:
»Schwester Elfriede!«
Sie machte sich frei.
»Ich muss gehen, Fritz.«
Hastig wandte sie sich ab und verschwand zwischen den hohen Bäumen des Parks.
Staude folgte ihr langsam. Es war wie verhext. Ausgerechnet am Abschiedsabend! Wenn sie sich wenigstens später noch sehen könnten! Aber in seinem Zimmer saß ein fremder Oberleutnant – wirklich, es war wie verhext.
Beim Hoteleingang traf Staude mit Wachtmeister Maderspacher zusammen.
»Muz«, sagte er, »schau zu, dass es morgen früh klappt. Um sechs Uhr zwanzig geht der Zug, du weißt ja. Punkt sechs Uhr muss König den Wagen bereithaben.«
Wenn er und der Wachtmeister unter sich waren, sagten sie »du« zueinander. An einem mulmigen Abend an der Ostfront hatten sie mit einem Rest Wodka Brüderschaft getrunken.
»Geht in Ordnung«, antwortete Maderspacher einsilbig. Er war in der Stadt gewesen. In dem Haus, in dem er einige Male heimlich mit Tilda zusammen gewesen war, hatte ihm eine fremde alte Frau geöffnet. »Signora nicht hier«, hatte sie in kaum verständlichem Kauderwelsch erklärt und die Tür zugeschlagen.
»Was ist los?«, fragte Staude, während sie die Hotelhalle durchquerten.
Muz Maderspacher gab achselzuckend zurück:
»Nichts weiter. Schwül ist’s – verdammt schwül.«
Im zweiten Stock trennten sie sich. Staude suchte sein Zimmer auf. Der Oberleutnant lag schon in dem Bett, das man für ihn aufgestellt hatte.
Die Besprechung im Hauptquartier des SS-Korps hatte sich bis in den späten Abend hingezogen. Obergruppenführer Sadila, der sich als unerschöpflicher charmanter Plauderer erwies, hatte es sich nicht nehmen lassen, seinen Gästen seine Lebensgeschichte zu erzählen. Vom Isonzo, wo er beinahe für den Maria-Theresia-Orden vorgeschlagen worden wäre, von Kaiser Franz Joseph, von Kaiser Karl, von Dollfuß, Schuschnigg und Seyß-Inquart, der die »Ostmark« heimgeführt hatte ins Reich. Dazwischen waren General von Kalteneck und Oberstleutnant Binder immer wieder bewirtet worden – mit Sliwowitz, mit Maraschino aus Zara und zuletzt mit Krimsekt, von dem das »Führerheim«, wie sie das Stabskasino nannten, nach Sadilas Angaben einen ansehnlichen Vorrat besaß. Der »Einsatz« der 398. Division war nur am Rande erwähnt worden.
Als Kalteneck schließlich zum Aufbruch drängte, hatte der Obergruppenführer es sich nicht nehmen lassen, ihm und seinem Ia eine Strecke weit das Geleit zu geben. Der SS-General und sein Stabschef, der aussah, als sei er einem Werbeprospekt für die SS entstiegen, hatten einen glänzend schwarz lackierten Horch-Wagen benützt.
Zur Verwunderung der beiden Offiziere des Heeres hatten sich sowohl der Obergruppenführer als auch der Standartenführer und das schwerbewaffnete Gefolge in fezartigen feldgrauen Kopfbedeckungen mit langen grauen Quasten präsentiert.
»Ich betreib hier altösterreichische Politik«, hatte Sadila beim Abschied erklärt, indem er seinen kleinen schwarzen Schnurrbart zwirbelte. »Bewaffnete Befriedung. Unsereiner hat’s im Blut, wie man die Zigeuner hier behandeln muss. Heil Hitler alsdann, Herr General! Wir seh’n uns ja bald wieder, net wahr?«
»Was halten Sie von der Sache?«, fragte General von Kalteneck den Oberstleutnant, als sie allein die Fahrt durch die laue Sommernacht fortsetzten.
Binder wiegte bedächtig den schmalen Kopf.
»Unterhaltsamer Mann, der Obergruppenführer«, sagte er schließlich. »Aber der Angriffsplan, wenn man überhaupt davon reden kann, gefällt mir nicht, Herr General.«
»Wieso?«, fragte Kalteneck. »Soll doch nur eine Art Säuberung sein. Gefechtsmarsch sozusagen. Der Ic behauptet ja, dass in dieser Gegend bisher keine feindlichen Kräfte festgestellt worden sind. Jedenfalls nichts Wesentliches. Dieser Oberleutnant mit seinen überalterten Landesschützen hat anscheinend die Hosen voll gehabt, als es ein paarmal im Gelände krachte.«
»Möglicherweise tun Herr General dem Mann unrecht«, entgegnete der Oberstleutnant. »Habe da gewisse Befürchtungen. Gerade der Ic scheint von unserem Metier nicht viel Ahnung zu haben. Auf meine Fangfragen ist er glatt hereingeplumpst. Mein Eindruck ist der, dass Sturmbannführer Hollitsch an Brustschmerzen leidet und dass den beiden anderen etwas am Hals fehlt. Man könnte es die deutsche Krankheit nennen.«
Unwillkürlich betastete General von Kalteneck sein Ritterkreuz. Vielleicht übertrieb Binder, aber auch ihm waren die faszinierten Blicke nicht entgangen, die der Kommandierende und vor allem der Standartenführer, der so scharf und schneidig auftrat, immer wieder auf das Ding an seinem Uniformkragen gerichtet hatten. General Sadila – wie war der SS-Obergruppenführer eigentlich zum Generalsrang gekommen? – besaß immerhin das Deutsche Kreuz in Gold, sein Stabschef das EK I. Der Sturmbannführer dagegen war ein völlig unbeschriebenes Blatt.
Im Allgemeinen war Kalteneck weit davon entfernt, die Menschen, mit denen er dienstlich in Berührung kam, nach ihren Auszeichnungen zu beurteilen. Die drei SS-Offiziere jedoch schienen sich auf den Feldzugsplan, den er durchführen sollte, geradezu versteift zu haben. Schon möglich, dass sie die Aufmerksamkeit der höheren Führung auf sich lenken wollten. Freilich war zu bedenken, dass Binder, dieser ungewöhnlich fähige Generalstäbler und im Grunde kühl und nüchtern beobachtende Menschenkenner, bestimmten Zeiterscheinungen und deren Repräsentanten gegenüber seine sonst so bemerkenswerte Objektivität verlor. Die Ursache dieser Einstellung war dem Divisionskommandeur nicht bekannt. Im übrigen hatte der Ia sich im Gespräch mit den drei Herren von der SS ganz offensichtlich bemüht, seine tief verwurzelte Abneigung und Skepsis nicht allzu deutlich zur Schau zu tragen.
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