Hollitsch zündete sich nochmals eine Zigarette an. Plötzlich läutete das Telefon. Eine undeutlich vernehmbare Stimme sprach am anderen Ende der Leitung. Hollitsch holte mit der freien Hand das auf Pappe aufgezogene Decknamenverzeichnis heran.
»Rheintochter« war eine Einheit, die irgendwo am Fuße der Velez-Planina lag. Der Sprecher war ein Oberleutnant. Sein Name klang wie Hase oder Haser. Er meldete ziemlich aufgeregt, er habe auf Grund fernmündlichen Ersuchens eines nahen Feldflugplatzes das Erforderliche zur Bergung eines Jagdfliegers unternommen, der aus seiner über der Küste in Brand geschossenen Maschine in seiner Gegend mit dem Fallschirm abgesprungen sei.
»Sehr gut«, warf Hollitsch ein. »Aber was haben wir damit zu tun?«
»Es handelt sich darum, Herr Sturmbannführer«, erklärte der Oberleutnant, »dass wir beim Anstieg mehrfach Feindberührung hatten. MG- und zweimal Granatwerfer-Beschuss. Den Luftwaffenhauptmann Welz haben wir gefunden. Der Fallschirm war zerschnitten und der Flieger wie Christus ans Kreuz an die Wand einer verfallenen Hütte angenagelt. Die Bergung misslang, Herr Sturmbannführer. Wir wurden von überlegenen Feindkräften angegriffen und mussten uns auf unseren Stützpunkt zurückziehen. Das wäre alles.«
Hollitsch räusperte sich.
»Danke«, sagte er mit belegter Stimme. »Werde das Nötige veranlassen. Ende.«
Er kurbelte ab und legte den Handapparat auf. Benommen suchte er auf der großen Karte die Velez-Planina im Süden von Mostar. Nach seinen Informationen galt diese Gegend als feindfrei.
Schwerfällig stand Sturmbannführer Hollitsch auf. Sein fülliges, leicht aufgeschwemmtes Gesicht überzog sich mit einer hektischen Röte. Jetzt also war das eingetreten, was er heimlich befürchtet hatte. Aber die Meldung von »Rheintochter« war so gravierend, dass er es nicht wagen konnte, sie zu unterdrücken.
Sporenklirrend – vom Morgenritt her hatte er noch die Sporen an den Reitstiefeln – verließ er seinen Dienstraum und stieg die Treppe zum ersten Stock des Hauptquartiers hinauf, das im Volksschulgebäude von Costenica untergebracht war.
Standartenführer Kremser, der Chef des Stabes, kaum dreißigjährig, voller Ehrgeiz, Träger des goldenen Parteiabzeichens und des EK I, empfing den Ic mit der sarkastischen Frage, ob ihn ein bosnischer Floh gebissen habe.
Der Standartenführer war selten anders als missgestimmt anzutreffen. Man wusste im Stab, dass er von seinen militärischen Qualitäten sehr überzeugt war und es als Herabsetzung empfand, dass man einen so hervorragenden Mann wie ihn in einem zur Tatenlosigkeit verurteilten Generalkommando sozusagen kaltgestellt hatte.
Hollitsch berichtete mit knappen Worten von dem Anruf aus den Bergen.
»Was?«, schrie Kremser und sprang wie elektrisiert auf. »Endlich kommt Leben in die Bude! Kommen Sie mit, Kamerad Hollitsch! Wir gehen sofort zum General!«
Der »General«, SS-Obergruppenführer Sadila, ehemals Leutnant der k. u. k. Armee des alten Österreich-Ungarn, war im Zusammenhang mit der Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuß im Sommer 1934 inhaftiert worden und nach dem Anschluss der »Ostmark« als politisch Verfolgter in die SS eingetreten und rasch avanciert. Vor einigen Tagen hatte er mit Unmengen von Sliwowitz, italienischem Kognak und französischem Champagner seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Die Nachwirkungen seines Rausches waren mittlerweile verflogen. Nicht verflogen dagegen war die Enttäuschung, die ihm der »Führer« dadurch bereitet hatte, dass er es versäumt hatte, seinem treuen Gefolgsmann Sadila das übliche Geschenk nebst Glückwunschschreiben zu übermitteln.
SS-General Josef Sadila lag in Netzunterhemd, Reithosen und grünen Seidensocken auf seinem Feldbett, als sein Stabschef in Begleitung des Ic den spartanisch eingerichteten Wohn- und Schlafraum betrat.
»Was bringen Sie Schönes, Standartenführer?«, fragte Sadila, ohne sich zu erheben.
»Den Anlass zum Losschlagen, Obergruppenführer«, antwortete der zum Überschwang neigende jungsiegfriedhafte Kremser mit einem Seitenblick auf den in strammer Haltung mit hochgerecktem rechtem Arm verharrenden Ic.
Hollitsch senkte den Arm und schnarrte seine Meldung herunter.
»Prachtvoll«, rief der SS-General im Liegen aus, doch in verzweifelt klingendem Ton fügte er hinzu: »Na, dieses Deutsch! Mein lieber Hollitsch, am liebsten tät’ ich Sie noch amal in d’ Schul’ schicken. Dös ist ja die reinste Fremdenlegion wie seinerzeit unterm guten alten Kaiser Franz Joseph.«
»Bitte um Entschuldigung«, stammelte Hollitsch mühsam. »Werd’ mich gefälligst bessern, Obergruppenführer, bitte sehr.«
Der General richtete sich auf, schwang die Füße zu Boden und sagte, zum Chef des Stabes gewandt:
»Sagen S’, Kremser, ist da nicht die 398., die sogenannte ›Geisterdivision‹ im Anmarsch? Wissen S’ was? Die soll da hineinstieren in das Wespennest, das sich da drüben bemerkbar gemacht hat. So eine Gemeinheit, einen deutschen Flieger an eine Hüttenwand zu nageln! Das werden wir denen austreiben! Die räuchern wir aus! Viel kann’s ja nicht sein.«
»Nach meinen Unterlagen war dieses Gebiet bisher nahezu feindfrei, bitte sehr«, beeilte sich Hollitsch zu versichern.
Sadila winkte mit einer Hand ab, während er mit der anderen nach seinen Stiefeln angelte.
»Schon gut, Hollitsch. Wird halt so ein versprengter Partisanenhaufen sein. Wir werden da schon aufräumen.«
Erneut wandte er sich dem Standartenführer zu.
»Schauen Sie zu, dass Sie den Divisionskommandeur ausfindig machen. Ein gewisser General von Kalteneck. Bitten S’ ihn zu mir! So ein kleiner Abstecher in den Karst tut denen nicht weh. Vorerst haben wir ja keine Anzeichen für eine baldige Landung. Und wenn schon – die kämen immer noch zur rechten Zeit. An der Küste können wir das Alliierten-Geschmeiß ja doch nicht abfangen.«
Standartenführer Kremser nahm Haltung an und stieß den rechten Arm hoch.
»Zu Befehl, Obergruppenführer.«
Er gab Hollitsch einen verstohlenen Wink und verließ gemeinsam mit dem Ic den Kommandierenden des LXXII. SS-Korps.
Der Marsch durchs Bergland war zeitraubend und beschwerlich. Die 398. Infanteriedivision, deren drei Grenadierregimenter mit je einem aus Kroaten zusammengesetzten Bataillon aufgefüllt worden waren, hatte von Anfang Dezember 1943 bis Februar 1944 mit wechselndem Erfolg am Unternehmen »Kugelblitz« teilgenommen, das letzten Endes wie das Hornberger Schießen ausgegangen war. Tito selbst war aus seinem Hauptquartier in Jeice entkommen, und seine Partisanendivisionen hatten sich abgesetzt, wann immer die deutsche Führung gehofft hatte, sie im Sack zu haben.
General von Kalteneck, an der Ostfront schwer verwundet, hatte die »Geisterdivision« erst Ende Juni übernommen. Seine frisch angepasste Unterschenkelprothese bereitete ihm erhebliche Schmerzen. Gegen den Rat der Ärzte hatte er die neue Frontverwendung auf dem Balkan, einem immerhin vorerst noch ruhigeren Kriegsschauplatz, beim Heerespersonalamt durchgesetzt, weil es ihm zutiefst widerstrebte, im sogenannten Heimatkriegsgebiet tatenlos das unausweichliche Ende des Krieges zu erwarten.
Der Funkspruch des Korps erreichte den General auf dem Marsch unweit Sarajewo. Er übergab Oberst Grauvogel, seinem ältesten Regimentskommandeur, die Führung der Division und fuhr mit Oberstleutnant Binder, seinem Ia, nach Costenica.
Die Unterstellung unter das SS-Korps, unter dem er sich nichts Rechtes vorstellen konnte, erfüllte Kalteneck mit Unbehagen. Aber vielleicht war es eine völlig unangebrachte Voreingenommenheit. Die Waffen-SS, soweit er im Osten mit ihr in Berührung gekommen war, hatte, von einigen höchst unerfreulichen Vorkommnissen abgesehen, an der Front zu jeder Stunde ihren Mann gestanden. Warum sollte das Generalkommando eines SS-Armee-Korps weniger zuverlässig arbeiten als die Korps-Stäbe des Heeres?
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