1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 „Es ist mir jetzt schon ein paar Mal aufgefallen. Du hast so gut wie gar keinen Akzent mehr”, ließ sich Colette nach einigen Minuten vernehmen, während sie auf dem mittlerweile autofreien Quais am Seine-Ufer in Richtung Châtelet spazierten.
„Herzchen, ich bin jetzt auch seit 51 Jahren in Paris”, gab François lachend zurück.
„So lange soll ich dich schon kennen?“, erwiderte Colette in entrüstetem Ton, „da war ich ja noch kaum geboren!“
„Ich kenne einen fantastischen Italiener, der erst vor ein paar Wochen hier geöffnet hat. Ein Geheimtipp!”, schwärmte François, die Koketterie der Freundin elegant übergehend.
Colette zog am Ärmel seines Kaschmirjacketts: „Bist ein verdammter Snob geworden”, lachte sie.
„Als ob du ein gutes Essen verschmähen würdest, Madame Coco”, neckte er sie zurück, „man kann ja nicht sein Leben lang so tun, als sei man immer noch Student ohne einen Centime in der Tasche, oder? Außerdem lade ich dich ein!”
„So habe ich es nicht gemeint!”, schmollte Colette, freute sich aber. François war ein Gourmet. Zähes Weißbrot mit heftig riechendem Käse stand für ihn schon lange nicht mehr zur Diskussion.
„ Signora, prego! ”
Der Kellner reichte Colette ein tulpenförmiges Champagnerglas, in dem feine Perlchen aufstiegen.
„ Santé , mein Lieber, und danke für die Einladung!“
François prostete Colette zu.
Dann vertieften sich beide in die Lektüre der Speisekarten. Sie waren sich nah und fern, wussten viel voneinander und empfanden jene Scheu, die sich einstellt, wenn seit dem letzten offenen Gespräch zu viel an Zeit vergangen war. Was durfte erwähnt werden, worüber ging man besser doch hinweg?
Der Champagner beschwingte Colette und ließ sie zu ihrer kecken Art zurückfinden, die sich nicht viel daraus machte, bisweilen mit der Tür ins Haus zu fallen.
„Diese Nummer auf dem Metroticket, die Katrin gefunden hat. Da steckst doch du dahinter. Johannes ist hier gewesen und du hast ihm meine Nummer gegeben. Wie hat er dich gefunden?“
François räusperte sich. Er hatte sich natürlich erst gesträubt, als Johannes Colettes Nummer hatte haben wollen. Aber Johannes war seit jeher so hartnäckig in puncto Diskussion wie François in Sachen Nachgiebigkeit. Noch dazu bekennender Romantiker, wie Colette sehr wohl bewusst war. François konzentrierte sich auf das Entfalten der Stoffserviette und platzierte sie akkurat auf seinen Oberschenkeln.
„Er hat mich gegoogelt.“
Klar. François leitete noch immer das Institut für Marktforschung, das er in den 90er Jahren gegründet hatte. Nichts leichter als ihn im Internet zu finden. „Ich bin wahrscheinlich der letzte Dinosaurier, den man über keine Suchmaschine finden kann”, kommentierte Colette, halb amüsiert, halb bitter.
François war verblüfft. „Bist du nicht auf Facebook?”
Colette druckste. „Doch, aber unter einem Spitznamen.”
So hatte Johannes sie letzten Endes auch gefunden.
„Aber er war doch in Paris? Oder hast du ihm das Ticket mit meiner Nummer mit der Post geschickt?”
François seufzte. Colette hatte genauso wie Johannes nichts an Beharrlichkeit verloren.
„Du bist noch genauso stur wie damals in unseren studentischen Ausschüssen! Unerträglich!”
„Nicht ablenken, Schatz! Ich will wissen, wieso Jo in Paris gewesen war. Wie er ist. Warum er meine Nummer wollte. Alles eben! Bitte!”
François fügte sich.
Johannes war nach Paris gekommen, um mehrere Vorträge zu halten. Er war in den vergangenen Jahren immer wieder hier gewesen, hatte sich aber nie vorher gemeldet.
Er hatte François in der Agentur angerufen und sich auf einen Kaffee mit ihm verabredet. Johannes sah aus wie früher, hatte die gleiche Frisur wie damals, ergraut natürlich, war aber schlank und wirkte drahtig.
„Ihr wärt immer noch ein schönes Paar.”
Colette tat, als habe sie den letzten Satz nicht gehört.
„Warum wollte er meine Nummer?”
„Vermutlich wollte er dich anrufen!”
Langsam wurde François etwas gereizt.
Zu beider Glück kamen in diesem Augenblick die Antipasti und zwei bauchige Gläser, in denen Wein rubinrot funkelte.
„Erinnerst du dich an unsere Abende mit Wein, der vier Francs das Glas kostete?”
François nickte. Das Gespräch entspannte sich und glitt hin zu jenen Jahren, als sie Zukunft planten, das Glück jagten und an die Losung L’imagination au pouvoir - Alle Macht der Fantasie‘, geglaubt hatten.
„Irgendwie tue ich das immer noch”, gestand Colette dem alten Freund, und überlegte, ob sie nicht kürzlich etwas Ähnliches schon einmal gesagt hatte. Richtig, zu Katrin.
François lächelte sie liebevoll an. Colette konnte eine verdammte Nervensäge sein, oft hatte sie ihre Freunde in den vielen Jahren mit vehementen Ausbrüchen, durch nichts zu erschütternde Meinungen oder einfach endlose Monologe auf Geduldsproben gestellt. Aber sie war lebendig, großzügig und begeisterungsfähig.
„Dann kannst du dir doch bestimmt vorstellen, dass dein Johannes auch noch Träume hat? Vielleicht kommst du ja irgendwie in diesen Wunschvorstellungen vor?”
Beim zweiten Glas Wein und der besten Pasta, die sie je gegessen hatte, konnte Colette sich das durchaus vorstellen.
„Er hat mich übrigens gefunden. Auf Facebook.”
„Ich dachte, du hättest dich unter einem Pseudonym angemeldet.”
„Ja, aber mit dem Spitznamen, den er mir gegeben hat.”
Entgeistert starrte François sie an. „In diesem Leben ist es mir nicht gegeben, euch Frauen zu verstehen.”
Da auch ihm der schwere Wein einige Hemmungen genommen hatte, wollte François von Colette wissen, was er noch nie zu fragen gewagt hatte: Wieso sie 1977 nach Paris zurückgekommen war und eine Art ‚Omerta‘ über Johannes verhängt hatte, die in den vergangenen vierzig Jahren unausgesprochenes Gesetz für alle geworden war.
Colette atmete tief.
„Ich hoffe, du hast Zeit, Francesco. Ich habe das alles noch nie erzählt. Also außer meinem Therapeuten. Und es gibt eine Menge dazu zu sagen, das kannst du mir glauben, denn seit vierzig Jahren denke ich darüber nach. Ich schlage dir vor, wir holen uns noch irgendwo eine Flasche Wein und dann kommst du mit zu mir. Deine Nacht wird lang oder kurz, je nachdem, von welcher Warte aus man es betrachten mag.”
François ließ sich nicht anmerken, dass durchwachte, durchquatschte Nächte nicht mehr zu seinem Lebensstil gehörten. Colette hatte eine beneidenswerte Vitalität. Die Aussicht aber, nun endlich einen Einblick in den Teil der Biografie Colettes zu bekommen, den sie verschlossen hielt wie die Büchse der Pandora, war verlockend. François nickte.
„Okay. Lass uns gehen.”
Arm in Arm, ‚wie in alten Zeiten‘ schlenderten die beiden erst den belebten Boulevard Sébastopol hinunter, bogen dann in Richtung Centre Pompidou ab.
In einem, spät abends noch offenen kleinen Supermarkt kaufte Colette zwei Flaschen Rotwein und drei Tafeln Schokolade.
„Falls ich rückblickenden Liebeskummer bekomme.”
Noch während sie in der Küche die Flasche entkorkten und Colette nach Gläsern fahndete, die den edlen Wein ähnlich stilvoll präsentieren sollten, wie die Kelche beim Italiener, begann sie zu erzählen.
„Es war im Oktober. Ich bin im Oktober zurückgekommen. Auf den Tag genau zehn Jahre, nachdem Johannes und ich uns kennengelernt hatten. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Dabei hatte alles so toll angefangen. Als wir 1973 nach Heidelberg kamen, fand ich es wirklich schön. Ich war ja einverstanden gewesen mit dem Umzug. Johannes war mit seiner Dissertation fertig, und wollte an der Uni bleiben. Ich hatte keine festen Vorstellungen, was ich machen wollte. Und meine gesamte Familie war derart negativ gegenüber Deutschland eingestellt, dass ich aus Trotz schon gehen wollte. Um ihnen zu beweisen, dass ich dort gut leben würde. Und zwar mit Johannes, den sie immer abgelehnt haben.”
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