In den Niederlanden sah man etwas nicht ganz Unähnliches. Die große Mehrheit bekannte sich als Niederländer (manche von ihnen auch als Holländer) 7), doch gab es stets eine sehr kleine Minderheit, die sich Dietsche , also „Deutsche“ nannte, denn vor dem Ausscheiden der Generalstaaten aus dem Heiligen Römischen Reich waren die Niederländer unzweifelhaft ‚Deutsche‘. Darum heißen auch die Niederländer auf Englisch Dutch , und im amerikanischen Slang werden auch heute noch die Deutschen als the Dutch bezeichnet. 8)Ein Erasmus von Rotterdam oder ein Papst Hadrian VI. aus Utrecht wurden überall als Deutsche betrachtet. Diese Ursprünge und Gefühle wurden von der deutschen Besatzung in den beiden Weltkriegen weidlich ausgenützt, doch wer mit ihr kollaborierte, hatte oft bitter zu büßen. Tatsächlich bekamen aber durch die deutschen Okkupanten die Flamen (in Ghent) ihre erste Universität, die ihnen nach dem Ersten Weltkrieg zunächst wieder einmal weggenommen wurde.
Zwar waren katholische Parteien in beiden „Niederlanden“ gut organisiert und sehr aktiv, späterhin sogar an einer Mehrzahl von Regierungskoalitionen beteiligt, aber ein eher engherziger Liberalismus beherrschte lange die Szene. Im „Königreich der Niederlande“ gab es sogar zwei kalvinische Parteien. 9)Die konfessionellen wie auch die konfessionell-säkularen Gegensätze waren hier viel schärfer als im Deutschen Reich, nicht zuletzt weil auch die ‚niederdeutschen‘ Katholiken besonders kämpferisch sind, und ihre Gegner entweder in einem sektiererischen Liberalismus oder im Kalvinismus (also nicht im Luthertum) zu suchen waren. Die Niederlande sind bis auf den heutigen Tag voll verbissener Gegensätze und dies, obwohl gerade in dieser Region die katholische Kirche in eine (wohl zu erwartende) Krise geriet, und eine enge Zusammenarbeit aller christlicher Konfessionen auf politischem Gebiet jetzt eher die Regel denn die Ausnahme ist.
Außenpolitisch versuchten die beiden Länder, sich aus den großen Spannungen, wenn auch vergeblich, herauszuhalten. Die belgischen Neutralitätskompakte (1831 und 1839), von den Großmächten – Rußland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und Preußen – unterschrieben, schützten Belgien nicht vor einer Invasion. (Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Belgien seine Neutralität aus eigenem Antrieb aufgegeben.) Die inneren Wunden, die der Erste Weltkrieg in Belgien schlug, waren in der Zwischenkriegszeit kaum verharscht, als der Zweite Weltkrieg sie wieder aufriß.
Kulturell war die Leistung der beiden Niederlande im 19. und 20. Jahrhundert nicht überragend. Literarisch waren die Flamen vielleicht aktiver als ihre nördlichen Nachbarn. In der Malerei brachte zwar Belgien Ensor hervor, 10)die nördlichen Niederländer aber van Gogh. Der französischen Malerei, der russischen oder nordischen Literatur hatten diese Länder, einst wahrhaft führend , nun nichts mehr gleichzusetzen. Dieser Vulkan scheint – zumindestens zeitweilig – ausgebrannt zu sein. (Ähnliches läßt sich schließlich auch von Italien sagen.) Nur einige wenige Namen kommen da einem in Erinnerung: Multatuli, Timmermans, Huizinga, Guido und Caesar Gezelle, wobei wir allerdings hier keine französisch schreibenden Flamen noch Wallonen erwähnt haben.
20. CHRISTENTUM VOR DEM ERSTEN WELTKRIEG
Die katholische Kirche ging in den Jahren 1789 bis 1914 durch eine Reihe von Phasen. Es war dies ein Auf und Ab, das aber im Endeffekt dennoch keineswegs als eine längere Periode des Abstiegs gewertet werden darf. Die Französische Revolution, so müssen wir gleich eingangs bemerken, traf die Kirche keineswegs in Frankreich oder anderswo in einem Zustand des völligen Zerfalls oder der inneren Auflösung, außer allerdings in einem richtunggebenden Sektor der Intelligenz, der gesellschaftlichen Spitzen, und des intellektualisierten Klerus. Es ist natürlich richtig, daß es in Frankreich ungeschriebene Adelsprivilegien innerhalb der Hierarchie 1)gab, daß Salonabbés herumschwärmten, die nicht an die grundlegenden Dogmen der Kirche glaubten, doch lebte die große Mehrheit der französischen Geistlichkeit, wie zahlreiche Beobachter aus der vorrevolutionären Zeit hervorhoben, brav, anständig, fromm und fleißig: Die Pfarrer und Bischöfe sorgten sich in so mannigfaltiger Weise um das Wohl und Wehe des einfachen Volkes und beschränkten sich nicht auf die Seelsorge. 2)Man muß aber zugeben, daß die Kirche in Frankreich damals immer noch am „inneren Schisma“ des Jansenismus litt, einer puritanisch-prädestinatären (in gewissem Sinn „kalvinistischen“) Strömung in der Kirche, deren allerletzte Ausläufer bis zum Ersten Weltkrieg und auch darüber hinaus gingen. 3)Der Jansenismus wurde durch eine Zusammenarbeit von Staat und römischer Kirchenleitung gewaltsam unterdrückt, und deshalb darf man sich nicht wundern, daß Jansenisten und auch Reformierte sich am Königtum zu rächen suchten und republikanisch zu fühlen begannen. Das zeigte sich dann auch im Spiegelbild anticalvinischer Ausschreitungen von Royalisten nach dem Sturz Napoleons.
Doch gab es, um einen Ausdruck Spenglers zu gebrauchen, während der Französischen Revolution auch einen Priesterpöbel, der nicht nur kompromißhaft kollaborierte und den vom Papst verbotenen Eid auf die Verfassung ablegte, sondern auch auf dem äußerst linken Flügel der Revolution eine nicht ganz unbeträchtliche und zumal höchst widerlich-widernatürliche Rolle spielte. Selbst Ordensleute waren darunter.
Doch hatte die Erste Aufklärung auch anderswo, und nicht nur in Frankreich, ihre Opfer gefordert. Durch den Josephinismus–Febronianismus war nicht nur allenthalben im Herzen Europas die Kirche enger an den Staat gebunden, sondern auch der Volksfrömmigkeit an den Leib gerückt worden. Diese Welle des „Antiklerikalismus“ überdauerte selbst die Französische Revolution und reichte bis in die Romantik hinein, die doch eine Reaktion auf die „Linke Welle“ gewesen war. (Man denke nur daran, daß lediglich empörte Bauern die Zerstörung der weltberühmten Wies–Kirche in Bayern durch eine „aufgeklärte“ Regierung verhinderten!) Freilich war der Josephinismus nicht ohne Widerstand über die Bretter gegangen: In den österreichischen Niederlanden, wie wir schon erwähnten, hatte er eine wahre Revolte hervorgerufen.
In der Romantik aber hatte die Kirche tatsächlich einen gewissen Auftrieb erlitten, der aber eher sentimentale als rationale Ursachen hatte. Die Greuel der französischen Demokraten und die napoleonischen Kriege, die den Fortschritt mit Feuer und Schwert über fast ganz Europa verbreiteten, hatten bei denkenden, viel mehr aber noch bei feinfühligen Menschen einen wahren Widerwillen gegen das „Neue“ erregt. Die katholische Kirche verzeichnete damals eine überraschende Anzahl von Konvertiten, die in der Mehrzahl aus dem Lager lauer oder innerlich abgefallener evangelischer Christen kamen. (Die Frommen wandten sich eher dem Pietismus zu.) Die Überzeugung war damals stark, daß die Monarchie mit dem katholischen Glauben innerlich verbunden war, während dem ‚Protestantismus‘ eine demokratisch-republikanische Tendenz innewohne – wohl ebenfalls eine fausse idée claire , die aber umso zugkräftiger war.
Auch heute nimmt man in kleinen katholisch-konservativen Kreisen nur zu gerne an, daß der Humanismus Luther, Luther aber die Französische Revolution, überdies Luther den Liberalismus und den ‚Kapitalismus‘ hervorgebracht haben, der ‚Kapitalismus‘ aber zwangsläufig zum Sozialismus führe. Nun war aber Luther in Wirklichkeit ein Antihumanist 4)und allen demotischen Vorstellungen 5)sowie wirklichen Neuerungen gegenüber spinnefeind gesinnt. (Demotisch-demokratische Tendenzen finden wir hingegen beim Jesuiten Suárez und anderen Spätscholastikern.) Der ‚Kapitalismus‘ hingegen wurde in der katholischen Lombardei 6)und in Spanien 7)geboren. Er bekam allerdings durch den Calvinismus einen späten, wenn auch gewaltigen Antrieb, wobei aber nicht so sehr die freie Wirtschaft (die man so gerne mit dem unsachlichen Terminus „Kapitalismus“ belegt), sondern der erhöhte, wenn nicht der überhöhte Arbeitsethos den Reichtum des Nordens in der Vergangenheit begründete. Zweifelhaft ist es allerdings, ob sich diese bewährte Arbeitsmoral im Versorgungsstaat noch lange halten wird.
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