Nachdem beide Gruppen das Verhaltensmuster verinnerlicht hatten, wurden heimlich die Bedingungen verändert. Jetzt wurde ein Punkt vergeben, nachdem der blaue Knopf im Durchschnitt 10 Mal gedrückt worden war. Der rote Knopf musste nur einmal und für etwa 10 Sekunden gedrückt werden, um einen Punkt zu erhalten. Die Probanden wurden über diese Veränderung nicht informiert. Sie konnten allerdings fortlaufend die Entwicklung ihres Punktestandes beobachten. Die Probanden, die in der ersten Phase ihr Verhaltensmuster durch direkte Erfahrung entwickelt hatten, passten sich an die neuen Umstände viel schneller an als jene, die in der ersten Phase zutreffende Instruktionen erhalten hatten. Die Regel half ihnen, schneller zu lernen, machte sie aber gleichzeitig weniger sensibel für Veränderungen in ihrer Umwelt. Die Möglichkeit einer Veränderung war in der ursprünglichen Information nicht vorgesehen.
In gewisser Weise ist das Problem sogar erwünscht. Unempfindlichkeit gegenüber Veränderung bietet einen Vorteil. Wenn wir laut rufen: »Lauf nicht auf die Straße!«, wollen wir nicht, dass Kinder die Relevanz dieser Anweisung erst durch Versuch und Irrtum testen. Ein einziges vorbeifahrendes Auto könnte ein Test zu viel sein. Aber Sprache und Kognition neigen dazu, sich auf Gebiete auszuweiten, in denen sie nutzlos oder sogar schädlich werden, wenn sie den Kontakt mit direkter Erfahrung verhindern. Dieses Phänomen ist nicht auf Anweisungen von außen beschränkt. Manchmal verursacht auch das Aufstellen eigener Regeln ausreichend psychologisches Unheil in Bereichen wie Einfühlungsvermögen, Kreativität, Spiel, Sex und Beziehungen. Wir können einerseits Probleme lösen, indem wir Vernunft und Problemlösestrategien anwenden. Gleichzeitig erschaffen wir durch die Dominanz von Sprache und Kognition neue Probleme.
Ein besseres Verständnis des dominanten Einflusses der Sprache kann zur Lösung dieses Problems durch die Steuerung des Kontexterlebens beitragen. Menschen können dann »die Sprache an die Leine« nehmen, dafür sorgen, dass sie hilfreich und flexibel ist, sie aber gleichzeitig begrenzen, wenn sie das nicht ist.
2.3.2 Verschiedene Arten von regelgeleitetem Verhalten können zu Inflexibilität führen
Bisher lag das Hauptaugenmerk auf Prozessen, die bedeutsam bei der Entwicklung von Regeln sind. Genauso wichtig sind jedoch die Prozesse, die zum Einhalten von Regeln führen. Wir werden uns in diesem Teil zunächst mit zwei dieser Prozesse befassen.
Betrachten Sie folgendes Beispiel: Eine Mutter sagt zu ihrem Kind: »Zieh deinen Mantel an – es ist kalt draußen.« Das Kind zieht den Mantel aber nur an, um Ärger mit der Mutter aus dem Weg zu gehen. In diesem Fall wird die Übereinstimmung zwischen dem in der Regel beschriebenen und dem tatsächlichen Verhalten von anderen beobachtet und belohnt. Dies nennt man Pliance (es handelt sich hier um einen Terminus technicus, der in ACT bewusst gewählt wurde, und an den Begriff »Compliance« (Regelkonformität) angelehnt ist). Pliance ist der Ausgangspunkt für regelgeleitetes Verhalten. Sie ist entscheidend für die moralische und soziale Entwicklung von Kindern. Beim Entdecken einer neuen und gefährlichen Welt ist die Übernahme von Erfahrungen der Eltern ein enormer Vorteil. Das Überleben hängt vom Funktionieren des regelgeleiteten Verhaltens ohne viel Ausprobieren und Erklären ab. Beispielsweise haben Eltern meist nicht genug Zeit ihren Kindern zu erklären, warum sie sich von zerbrochenem Glas fernhalten, nicht auf die Straße laufen oder vorsichtig gehen sollten, wenn der Fußboden feucht ist.
Ein großer Teil des regelgeleiteten Verhaltens, das zwischenmenschliche Interaktionen steuert, war wahrscheinlich ursprünglich Pliance. Kinder, die lernen »bitte« oder »danke« zu sagen, haben vermutlich keine Ahnung, warum sie das tun sollen. Der einzige Grund ist, dass die Eltern darauf bestehen. Möglicherweise halten die Eltern Dinge zurück, bis Kinder die »Zauberworte« benutzen. Später stellen Menschen fest, dass dieses Verhalten weitere Vorteile mit sich bringt, beispielweise soziale Beziehungen fördert. Ursprünglich gründet das Verhalten darauf, dass auf regelgeleitetes Verhalten positive soziale Konsequenzen folgen. Menschen lernen ganz einfach Regeln einzuhalten. Das systematische Nichtbefolgen einer Regel entspricht ebenfalls einer Form der Pliance, nämlich »Counterpliance«. Sie wird ebenfalls durch soziale Konsequenzen auf die Regelbefolgung bestimmt. Dabei ist die Beziehung zwischen Handlung – Regel umgekehrt (z. B. »Ich werde diese Regel nicht befolgen, weil Menschen in meiner Kultur nicht gerne Regeln einhalten.«). Anders ausgedrückt brauchen sowohl Regelkonformität als auch Rebellion eine Dominanz von sozialen Verstärkern für regelgeleitetes Verhalten.
Menschen halten aber auch Regeln ein, weil sie mit den Konsequenzen des in der Regel spezifizierten Verhaltens in Kontakt kommen. Ein Beispiel ist ein Junge, dem seine Mutter sagt: »Zieh deinen Mantel an – es ist kalt draußen«. Er macht anschließend die Erfahrung, dass dieses Verhalten tatsächlich vor unangenehmen Temperaturen schützt. Die Befolgung einer Regel aufgrund der Erfahrung von Verstärkung im Kontakt mit Konsequenzen, die durch eine Regel bestimmt wurden, nennt man Tracking 7 . Es handelt sich ebenfalls um einen ACT Terminus technicus. Es handelt sich um einen metaphorischen Ausdruck, der beschreibt, dass man mit einer Regel einem symbolischen Pfad (Track) folgt, ähnlich wie man es mithilfe einer Landkarte tut. Die Konsequenzen sind beim Tracking auch vorhanden, wenn sie nicht in einer Regel gefasst waren. Das Tragen eines Mantels, wenn es kalt ist, verhindert das Frieren, egal ob dieser Hinweis gegeben wurde oder die Mutter weiß, dass er befolgt wurde. Bei Pliance ist das anders – hier gibt es die Belohnung nur, »wenn man tut, was gesagt wurde«. Hierzu ist erforderlich, dass jemand weiß, was gesagt wurde, und wie man sich verhalten hat. Beachten Sie, dass der Unterschied zwischen Tracking und Pliance nicht einfach auf der sozialen Verstärkung beruht. Wenn eine Therapeutin ihrer Patientin erklärt, wie sie sich erfolgreich mit einem Mann oder einer Frau verabredet, und die Regeln sind hilfreich, dann folgt sie diesen Regeln und macht günstige zwischenmenschliche Erfahrungen. Die Menschen, mit denen sie sich getroffen hat, werden sich aber nicht deshalb wieder mit ihr verabreden wollen, weil sie die Regeln eingehalten hat, sondern weil sie sich zwischenmenschlich geschickt verhalten hat. Dabei ist es egal, wie dies zustande kam. Tracking kann also einen interpersonellen Aspekt haben. Im Gegensatz dazu braucht Pliance immer zwischenmenschlichen Kontakt. Hier erfolgt die Verstärkung auf der Grundlage der Verbindung zwischen Regel und Verhalten. Nur Menschen können diesen Zusammenhang erkennen.
Pliance und Tracking haben Vor- und Nachteile. Beide helfen, schnell zu lernen, ohne zuerst die Konsequenzen des Verhaltens tatsächlich erfahren zu müssen. Wenn allerdings soziale Konsequenzen zu Regelbefolgung per se hinzugefügt werden, wie es bei Pliance der Fall ist, führt dies zu verminderter Sensitivität gegenüber natürlichen Konsequenzen. Ein Junge kann beispielsweise seinen Mantel gehorsam anziehen, obwohl es zu warm ist, weil die Mutter ihn mit den Worten: »Guter Junge!« lobt. Der Versuch, gut dazustehen, sich anzupassen oder recht zu haben, hebelt dann den ursprünglichen Sinn von Regeln – nämlich effektiver zu sein – aus. Ein derartiges Handeln nach sozialer Erwünschtheit kann zu den klassischen psychologischen Problemen führen, die auf »sollte«, oder »muss« Regeln basieren. Dies wurde bereits von den Pionieren der Kognitiven Verhaltenstherapie (CBT), wie Albert Ellis, sehr deutlich dargestellt.
Regeln können zunächst im Rahmen von Tracking befolgt werden, dann aber in Pliance übergehen. Stellen Sie sich vor, Sie haben sich entschieden, einige Restaurants auf eigene Faust auszuprobieren, anstatt zuerst Kritiken zu lesen. Das dauert eine Weile, aber irgendwann haben Sie mit dieser Methode die besten Lokale entdeckt. Dann sagen Sie sich etwas wie: »Hier gefällt es mir, ich muss unbedingt nochmal herkommen!«. Sie geben diese Regel mit Stolz über Ihre eigene Urteilsfähigkeit möglicherweise an andere weiter. Ursprünglich wird die Regel durch das Essen von guten und günstigen Speisen aufrechterhalten (Tracking). Das Befolgen der Regel wird aber irgendwann nicht mehr durch qualitativ gutes Essen aufrechterhalten, sondern durch das Rechthaben desjenigen, der die Regel erstellt hat, und das sind… Sie! Wenn das geschieht, kann sich die Qualität des Essens verschlechtern und Sie werden trotzdem fortfahren, Ihrer Regel zu folgen und sie an andere weiterzugeben. Dieser sinnwidrige Effekt verstärkt sich wahrscheinlich noch weiter, wenn Sie Ihre Ansichten mit anderen teilen. Denn obwohl Sie selbst diese Regeln aufgestellt haben, können Beobachter die Übereinstimmung zwischen Regeln und Verhalten überprüfen und bestätigen. Rechthaben kann in der Tat dazu führen, dass man Restaurants aufsucht, weil man sie irgendwann als gut bezeichnet hat, nicht, weil sie es noch sind. Nach jedem Essen denkt man, unabhängig von tatsächlicher Qualität und Preis: »Dies ist wirklich das beste Lokal in der Stadt, ich hatte Recht damit, dass ich wieder hergekommen bin!«. Dann ist Tracking zu Pliance geworden.
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