Ich war mir eigentlich sicher gewesen, dass ich hier in der Dorfapotheke Atemmasken bekommen würde, weil in unserem Dorf trug noch niemand eine. Ich hatte mir schon vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn ich als Erste auf einmal mit einer Atemmaske herumliefe. Natürlich würden dann alle denken, dass ich das Virus habe und alle anstecke. Aber das dachten sie ja sowieso, weil im Grunde hatte ich ja auch die ganzen Leute aus all den Risikoländern hergeholt, und auch die, die immer zwischen Stadt und Dorf hin- und herfuhren. Es würde mir also so oder so angelastet werden. Aber die Atemschutzmasken waren aus beziehungsweise hatte es nie welche gegeben und sie könnten auch nicht nachbestellt werden, sagte die Apothekerin. Das Tragen von Masken wäre im Übrigen gar nicht unbedingt hilfreich, wahrscheinlich sogar gefährlich, sagten die Verantwortlichen, die wussten, dass es nicht genügend Masken für alle gab und Panik vermeiden wollten. Nur, wenn man schon eine Maske hatte, dann sollte sie vielleicht trotzdem besser getragen werden. Man war sich ziemlich sicher, dass das Tragen von Masken mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch nicht schaden würde.
Apotheke II
Artenvielfalt
Aufbruch AUFBRUCH Der Winter war passé, und auch, wenn sonst alles herunterfuhr, begann die Natur zu erwachen. Nichts und niemand konnte sie aufhalten, so wie sie bis jetzt noch jedes Jahr nichts und niemand hatte aufhalten können. Kraniche zogen in Keilformationen über den Himmel, Buschwindröschen blühten auf den jetzt noch lichtdurchfluteten Böden der Laubwälder und wie immer begab sich die Krötenschar mitten in einer Nacht zu ihrem Laichgewässer. Ich weiß das, weil das Laichgewässer der Kröten in Hörweite meines Schlafzimmerfensters liegt. Sie brechen zu einer Zeit auf, zu der ich zwar schon im Bett liege, aber noch etwas Wichtiges zu überdenken habe, und wenn sie angekommen sind im Tümpel, dann feiern sie mit lautem Quaken den Neubeginn. Die Tage wurden eindeutig wieder länger, was die Zirbeldrüsen in Mensch und Tier dazu veranlasste, weniger Schlafhormone auszuschütten und Gefühle der Leichtigkeit zu vermitteln. Doch in diesem Frühling waren die Menschen von der um sie herum sprießenden Natur eher irritiert. Sie hatten das Gefühl, dass sie diesmal nicht dabei sein durften.
Auflösung AUFLÖSUNG Der Mann hatte die Bedrohung tatsächlich noch nicht verstanden. Er schaute auf die Wetter-App, als ob nichts wäre, und überlegte, was das Wetter für die Baustelle bedeuten könnte. Von mir glaubte er, dass ich mich vor der Arbeit drücken wollte, dabei gab es ja gar keine Arbeit mehr, vor der ich mich hätte drücken können. Aber das konnte ich dem Mann unmöglich sagen, nicht solange die Böden in den unteren Räumen leergeschaufelt wurden und die Arbeiter jede Stunde Geld kosteten. So hatte ich eigentlich alle Zeit der Welt und der Virus konnte voll und ganz Besitz von mir ergreifen. Die endgültige Absage war dann doch ziemlich abrupt gekommen und der Redakteur hatte es auch gar nicht genauer erklären können. Nur dass ich mich eben durch die vielen Rewrites von der genialen Anfangsidee immer weiter weg bewegt hätte. In dem Moment konnte ich ihm natürlich schwer sagen, dass ich gerade gestern erst einen richtig großen Schritt getan und sich der Hauptcharakter in meiner Vorstellung zu einem ganz anderen entwickelt hatte, was das Ende der Geschichte um ein Vielfaches besser gemacht hätte. Man darf sich nie mehr interessieren als der andere, das ist die erste und wichtigste Regel. Also sagte ich »Lebwohl«, aber mit einem Lächeln, sodass sich irgendwie eine zweite Bedeutung zu den Worten dazugesellte. Um welche zweite Bedeutung es sich handelte, ließ ich offen, aber ich sah an dem irritierten Blick des Redakteurs, dass ihm das Vorhandensein der zweiten Bedeutung nicht entgangen war. Zurück zu Hause, wusste ich erst gar nicht was mit mir anzufangen. Ich musste mich einfach mit aller Kraft in eine neue Aufgabe stürzen, die ja keinesfalls eine unwichtigere sein müsste, und so verbot ich mir, noch weiter darüber nachzudenken. Ich habe dann lieber meiner Mutter von dem gefährlichen Virus erzählt, aber die musste gleich raus in den Garten, weil es so schön warm war und sie die Frühjahrsbeete vorzubereiten hatte. Ob ich einfach mal alle anrufen sollte, bei denen ich mich vielleicht angesteckt haben könnte? Aber die Erinnerungen an diesen Abend waren doch sehr verschwommen und tatsächlich hatte ich ja auch gar nicht die Nummern von allen, also hätte ich gar nicht alle anrufen und die Infektionskette nachverfolgen können. Das Virus ließ sich nicht mehr aufhalten.
Ausnahme
Bäm
Barfuß
Barfuß II
Barfuß III
Bessere Welt
Bingo
Biologische Kampfstoffe
Bokashi
Bunker
Bushäuschen
Chaos
China
China II
Chloroquin
Crash
Desinfektion
Deutsche Maschinen
Die Ruhe vor dem Sturm DIE RUHE VOR DEM STURM Die Ruhe vor dem Sturm bezeichnet die letzten Momente vor der Katastrophe. Damit die sonst geschäftigen Orte sich leeren, muss ein Großteil der Menschen der kommenden Gefahr gewahr sein und sich bereits in Sicherheit gebracht haben, oder sich gerade in Sicherheit bringen. Die Ruhe vor dem Sturm wird selten als friedlich empfunden, obwohl durchaus Potenzial für Momente der Besinnung vorhanden wäre. In der Ruhe vor dem Sturm lässt sich schlecht etwas Neues anfangen. Hier auf dem Dorf war die Ruhe vor dem Sturm nur schwer von der ganz normalen Ruhe zu unterscheiden. Nur aus dem Internet wusste man, dass das hier jetzt die Ruhe vor dem Sturm war. Immer mehr Bilder von leeren Plätzen, die sonst niemals leer waren, wurden gezeigt, und Kurven mit Zahlen, die Anstalten machten, hochzuschnellen. Bald kamen einem alle Menschen, die sich noch nicht in Sicherheit gebracht hatten, unverantwortlich, ja fast lebensmüde vor. Komischerweise fiel mir da der Titel für die Zombieserie ein: Honka . Oder besser: Honka, Bar des Vergessens . Ich hatte erst vor ein paar Tagen von einer Bar mit diesem komischen Namen geträumt. Es war ein seltsamer Traum, deshalb habe ich ihn auch nicht gleich wieder vergessen wie andere Träume. Ich betrieb die Bar zusammen mit einigen Schulfreunden, mit denen ich schon längst nichts mehr zu tun hatte, und die neuen Nachbarn kamen als Gäste. Die Familie mit den zwei Kindern war erst vor Kurzem gegenüber eingezogen. Sie verwirklichten ihren Traum vom Leben auf dem Land und ich hatte sehr stark daran mitgewirkt, sie davon zu überzeugen, dass genau hier der richtige Ort dafür wäre. Aber jetzt, da ich sie in die Bar kommen sah, hatte ich so eine Vorahnung, dass sie über mich etwas herausfinden würden, was sie vielleicht vom Gegenteil überzeugen könnte. Aber genau konnte ich mich eigentlich nur an den Schriftzug mit dem Namen dieser Bar erinnern, der mit schwarzer Farbe über die Eingangstür gesprüht war.
Die Ruhe vor dem zweiten Sturm
Dramaturgie DRAMATURGIE Hinten beim Kompost, da wo es wegen der hohen Bäume immer ein bisschen kühler und auch ein bisschen feucht ist, bilden die Brennnesseln im April erst nur einen fröhlichen hellgrünen Schimmer. Wenn man dann aber kurz nicht achtgibt, beginnen sie zu schießen. Sie schießen immer weiter und werden fett und dunkelgrün und bald kann man gar nicht mehr durchgehen, ohne dass die Nesseln einem die Unterarme verbrennen. Damit aber nicht genug, die Brennnesseln multiplizieren ihr Wachstum, bis sie übermannshoch sind. Aber da merken sie auch schon, dass sie langsam ein Problem kriegen mit den langen dünnen Stängeln, und die Blattläuse haben sich auch längst daran gewöhnt, exponentiell zu wachsen. In einem abgeschlossenen Ökosystem, habe ich gelesen, stößt jedes Wachstum irgendwann an seine Grenzen. Es wächst einfach, bis es nicht mehr geht und von etwas anderem wieder herunterreguliert wird. Also entweder von einem Feind, einem Mangel oder Stress. Jedes Ökosystem reguliert sich selbst, das ist das, was ein Ökosystem überhaupt erst ausmacht. Alles, was einer in einem Ökosystem macht, hat Auswirkungen und fällt auf ihn und die anderen im Ökosystem zurück. Jetzt können wir eigentlich nur noch abwarten, hat der Top-Virologe gesagt, als alle Vorsichtsmaßnahmen endgültig besiegelt waren. Wir schlossen uns ein und guckten auf die Kurven, die langsam aber stetig nach oben krochen.
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